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☕ Bin mal kurz Kaffee holen – (Selbst)fürsorge für mehr Teilhabe
Aus der Praxis

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Digitale Bildungsseminare in den Freiwilligendiensten Kultur und Bildung

veröffentlicht:
Computerbildschirm mit Powerpontpräsentation: "Mein FSJ".
BKJ | Andi Weiland

Welche Rahmenbedingen sind nötig, damit Menschen mit ihren individuellen Bedarfen an kulturellen Bildungsprozessen teilhaben können?

„Stell dich nicht so an! So schlimm kann es doch nicht sein! Andere schaffen das doch auch!“ Glaubenssätze wie diese zermürben. Tauchen sie auf, schränken sie oftmals nicht nur das Selbstwertgefühl, sondern auch die Handlungsfähigkeit enorm ein. Besonders oft betroffen sind Menschen, die immer wieder gesellschaftliche Benachteiligungen erfahren. Menschen mit psychischen oder chronischen Erkrankungen, körperlicher Behinderung oder Neurodivergenz, die es ihnen unmöglich machen, an vermeintlich alltäglichen Dingen teilzunehmen.

Auch die Teilnahme an den Bildungstagen im Freiwilligendienst stellt viele Freiwillige immer wieder vor Herausforderungen. Die Vorstellung, fünf Tage mit dreißig oder mehr fremden Menschen zu verbringen, Mehrbettzimmer und geteilte Bäder vor Ort zu nutzen, löst bei einigen der 15- bis 23-Jährigen große Ängste aus. Die LKJ Sachsen-Anhalt und die LKJ Sachsen, Träger in den Freiwilligendiensten Kultur und Bildung und damit Organisatoren von Bildungsseminaren, haben beispielhaft Lösungsvorschläge erarbeitet, um Menschen mit bestimmten Bedarfen ihre Angebote zugänglich zu machen. „Wir versuchen schon vorab durch niedrigschwellige eintägige Kennenlerntreffen die Ängste vor der Gruppe abzubauen. Nichtsdestotrotz ist es eine ungewohnte und mitunter mit schlechten Erfahrungen verknüpfte Situation, fünf Tage Seminarfahrt zu absolvieren, ohne die gewohnten Routinen und die eigenen Bezugspersonen vor Ort“, berichtet Anna-Marie Müller von der LKJ Sachsen-Anhalt, die die Begleitung und Koordination der Freiwilligen und Einrichtungen im FSJ Kultur übernimmt. In der „Bedarfsabfrage für die Seminararbeit“ haben Freiwillige deshalb die Möglichkeit ihre persönlichen Bedarfe vorab mitzuteilen.

„Wir urteilen nicht über andere!“

Sogenannte Awareness-Teams, die sich in der LKJ Sachsen seit mehreren Jahrgängen aus Freiwilligen der Seminargruppe aufstellen, sorgen dafür, dass Bedarfe innerhalb einer Gruppe geklärt und durch persönlich definierte Regeln („Wir urteilen nicht über andere!“) beachtet werden. Ramona Strohwald, die als Koordinatorin in den Freiwilligendiensten Kultur und Bildung bei der LKJ Sachsen tätig ist, weiß: „Awareness ist in erster Linie eine Haltung!“ Durch den offenen und transparenten Austausch mit den Freiwilligen wird das vorgelebt. Sei es durch eine inklusive Seminargestaltung, Partizipation oder der Möglichkeit, sich aus bestimmten Situationen rausziehen zu dürfen.

Wenn wir wirklich allen Menschen eine Teilnahme an Kultureller Bildung ermöglichen wollen – und im Falle der Freiwilligendienste auch dafür Sorge zu tragen haben – dann müssen wir den Teilnehmer*innen auch mit einer größtmöglichen Offenheit mit einer Abfrage zu ihren Bedarfen entgegenkommen.

Anna-Marie Müller von der LKJ Sachsen-Anhalt

Auch wenn es seitens einiger Träger Bemühungen gibt, die Seminare vor Ort so angenehm wie möglich zu gestalten, haben Vera Mai und Alena E. Lyons die Erfahrung gemacht, dass „für einen Teil der Freiwilligen die Anwesenheit in Präsenz eine Hürde darstellt, die einfach nicht händelbar ist“. Die beiden bieten im Team von BILDUNG – DIGITAL – INKLUSIV deshalb Online-Seminare an, die nach Absprache mit dem jeweiligen Träger für alle Freiwilligen in den Freiwilligendiensten Kultur und Bildung offen sind. In der AG Inklusion, Diversität und Antidiskriminierung des Trägerverbunds stand bereits vor der Corona-Pandemie die Idee im Vordergrund, ein digitales Bildungsangebot für Freiwillige zu schaffen, die aus verschiedensten Gründen nicht in Präsenz teilnehmen können und wollen. Im digitalen Raum legen die beiden Seminarleiterinnen Wert auf einen offenen und respektvollen Umgang miteinander. Die Herausforderung bestehe darin, Strukturen zu schaffen, in denen Beziehungsarbeit und ein gutes Miteinander möglich wird, betont Sozialpädagogin Vera Mai.  

Hürden abbauen, Teilhabe ermöglichen

Sobald sich die Freiwilligen für die digitalen Seminare angemeldet haben, rufen die beiden Seminarleiter*innen ihre Teilnehmer*innen an. Sie interessiert nicht die Diagnose. Sie interessiert: Was benötigen die Freiwilligen, um an den Seminaren teilnehmen zu können? Häufig seien es Kleinigkeiten, berichtet Vera Mai. Eine frühzeitige Ansage, wann man seine Kamera anschalten müsse, die Bitte eine Person nicht aufzufordern etwas zu sagen oder sich nach Möglichkeit ganz herauszunehmen. Die Telefonate geben den Teilnehmer*innen Sicherheit. In vier aufeinander aufbauenden Einheiten werden Themen wie Awareness und Achtsamkeit, Identität und Persönlichkeitsbildung, aktuelle gesellschaftspolitische Themen und der Ausblick auf die Zeit nach dem Freiwilligendienst in den virtuellen Raum gebracht.

Mit gemeinsamen Übungen lernen die Teilnehmer*innen der digitalen Bildungsseminare, wie sie achtsam mit sich selbst und mit anderen umgehen können. Dazu gehöre auch die Reflexion der eigenen Rolle in der Gruppendynamik: Was löse ich bei den anderen Seminarteilnehmer*innen aus, wenn ich meine Kamera nicht anschalten möchte? Und wie kann ich mich vielleicht trotzdem einbringen? „Gerade im digitalen Raum ist es schwieriger achtsam miteinander umzugehen als in Präsenz“, weiß Vera Mai.

Die Vorteile des digitalen Raums

Auch Freiwillige, die sich nicht trauen vor einer Gruppe zu sprechen, können sich mit den vielfältigen Möglichkeiten im digitalen Raum, wie zum Beispiel dem Gebrauch von Emoji-Reaktionen oder schriftlich im Chat, dennoch einbringen. „Das ist super, weil sie nach ihren Bedingungen eine positive Lernerfahrung machen“, erklärt Vera Mai. „Für uns ist es wichtig, einen Ort für Personen zu schaffen, an dem sie sichtbar werden und nicht untergehen.“ Ploppt bei einer teilnehmenden Person die Kaffeetasse auf, bedeutet das: „Ich bin mal eben weg“. Dafür müssen die Teilnehmer*innen keinen Grund anführen. Aber: „Ich möchte informiert sein“, sagt Vera Mai. Klare Regeln helfen dabei eine gewisse Verbindlichkeit herzustellen.

Die Erfahrung, sich einen Aspekt in ihrem Alltag so zu gestalten, dass er als positiv wahrgenommen wird, führt nicht nur zu einer Stärkung des Selbst, sondern stärkt ebenso die Resilienz.  

Vera Mai, Seminarleiterin für Digitale Bildungsseminare

Das Ziel sei immer, die Komfortzone zu erweitern. Das geschieht mit ganz unterschiedlichen Herausforderungen. Bei den sogenannten Reflexionsspaziergängen bekommen die Teilnehmer*innen neben einer Auszeit vom Bildschirm auch eine Aufgabe. Zum Beispiel sollen sie unterschiedliche Menschen zu einem gesellschaftspolitischen Thema ansprechen. Bei der Umsetzung sind die Teilnehmer*innen dazu eingeladen, individuelle Lösungsansätze zu finden: Während das für die eine Person bedeutet, bei jemandem zu klingeln, den sie bereits kennt, heißt das für die andere, jemanden anzurufen.

Das Selbst stärken

Selbstbestimmtes Lernen und ein Lernumfeld als positiv wahrzunehmen, geschieht für viele der Freiwilligen während der digitalen Bildungsseminare zum ersten Mal. Menschen, die aufgrund ihrer Bedarfe möglicherweise stigmatisiert werden, erhalten so einen selbstwirksamen und lösungsorientierten Ansatz und werden durch diese Erfahrung wiederum resilienter. „Die Erfahrung, sich einen Aspekt in ihrem Alltag so zu gestalten, dass er als positiv wahrgenommen wird, führt nicht nur zu einer Stärkung des Selbst, sondern stärkt ebenso die Resilienz“, sagt Vera Mai.

„Gerade psychische Erkrankungen, die körperlich nicht sichtbar sind, sind für viele Menschen immer noch schwer zu greifen“, berichtet Vera Mai aus ihrer Praxiserfahrung. Träger und Einsatzstellen, meist kulturelle Institutionen, in denen der Freiwilligendienst geleistet wird, sollten deshalb offen und aufgeschlossen auf die Bedarfe ihrer Freiwilligen eingehen. Anna-Marie Müller von der LKJ Sachsen-Anhalt sieht das ähnlich: „Wenn wir wirklich allen Menschen eine Teilnahme an Kultureller Bildung ermöglichen wollen – und im Falle der Freiwilligendienste auch dafür Sorge zu tragen haben – dann müssen wir den Teilnehmer*innen auch mit einer größtmöglichen Offenheit mit einer Abfrage zu ihren Bedarfen entgegenkommen.“

Bedenken im Vorfeld und die Sorge, dass Freiwillige dies ausnutzen, haben sich mit der Umsetzung der Bedarfsabfrage zerschlagen. Für Menschen mit alltäglichen und strukturellen Diskriminierungserfahrungen bedeutet Awareness, aber auch mentale Gesundheit, etwas ganz anderes als für mehrheitlich privilegierte Personen. Sie ernst zu nehmen und ihre Bedarfe anzuerkennen, ohne sie herunterzuspielen oder gar zu hinterfragen, ist keine Utopie.