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Aus der Praxis

„30.past.89” – Geschichte auf der Bühne

Eine deutsch-polnisch-russische Jugendtheaterbegegnung

07.02.20

Was haben geschichtliche Ereignisse wie der Zweite Weltkrieg oder der Zusammenbruch des Kommunismus in Mittel- und Osteuropa mit der Lebensrealität junger Menschen von heute zu tun?

von Maryna Czaplińska und Caroline Zeidler

Porträt von MARYNA CZAPLIŃSKA

Maryna Czaplińska ist Kulturwissenschaftlerin und Kulturmanagerin, Vorsitzende der Dr. Michael Dethloff Stiftung.

Porträt von CAROLINE ZEIDLER

Caroline Zeidler ist verantwortlich für die Gesamtorganisation und Koordination des Projekts „30.past.89”.

Eine Gruppe Jugendlicher in Keidung in Pastellfarben auf einer Bühne. Ein junger Mann steht mit erhobenen Armen in der Mitte.

Dieser Beitrag ist zuerst im Magazin des Deutsch-Polnischen Jugendwerks INFO Nr. 2/2020 erschienen und wird hier mit freundlicher Genehmigung des DPJW zweitveröffentlicht.

Ihre Großeltern gehören oft zur Nachkriegsgeneration, und ihre Eltern haben die Ereignisse vor 30 Jahren als Jugendliche verfolgt. Die Geschichte des Zweiten Weltkriegs wird zwar in der Schule behandelt, die für diesen Teil Europas so wichtigen Ereignisse der späten 1980er- und frühen 1990er-Jahre sind hingegen nicht Teil der regulären Lehrpläne. Wissen hierüber ist jedoch enorm wichtig, wenn man die Welt von heute verstehen will.

Fragen zu Geschichte

Wie spricht man mit Jugendlichen aus verschiedenen Ländern über Geschichte? Wie findet man heraus, was sie von dieser mitnehmen, was für sie am wichtigsten ist, wie und was sie erinnern wollen? Wie schafft man es, dass junge Menschen einander zuhören und verstehen wollen? Wie behandelt man Themen, bei denen es Differenzen gibt? Johannes Krug, Superintendent des Kirchenkreises Teltow- Zehlendorf, stellte sich 2009 diese Fragen anlässlich des 70. Jahrestags des Beginns des Zweiten Weltkriegs und versuchte, durch ein gemeinsames deutsch-polnisch-russisches Theaterprojekt Antworten zu finden.

Er fand Projektpartner in Polen und Russland und lud zudem Birgit Lengers, die Chefin des Jungen DT (ein Teil des Deutschen Theaters in Berlin) sowie die Regisseurin und Theaterpädagogin Uta Plate zur Zusammenarbeit ein. Das Projekt wurde nicht nur ein pädagogischer, sondern auch ein künstlerischer Erfolg. Die Teilnehmer*innen und Organisator*innen lernten anschaulich, wie sich verschiedene gesellschaftliche und familiäre Narrative mit nationaler und persönlicher Geschichte anderer Menschen messen müssen und setzten sich mit ihrer eigenen Position in der Gesellschaft, mit Zivilcourage und der Bereitschaft zu Opposition auseinander.

Das Projekt regte alle Beteiligten an, darüber nachzudenken, in welchem Maß junge Menschen durch Geschichte und Erfahrungen der Generationen ihrer Eltern und Großeltern geprägt sind. Daher beschlossen die Organisatoren, das Projekt 2017 anlässlich des 500. Jahrestages der Reformation weiterzuführen. Der 30. Jahrestag der politischen und gesellschaftlichen Umbrüche von 1989 und deren Folgen in Deutschland, Polen und Russland boten schließlich Anlass, einen dritten Projektdurchlauf unter dem Titel „30.past.89“ zu organisieren.

Identität und Politik

„30.past.89” beschäftigte sich mit dem Wechselspiel zwischen Identität und Politik. 18 junge Menschen aus Deutschland, Polen und Russland untersuchten, wie stark individuelle Lebenswege und politische Ereignisse miteinander verwoben sind. Dabei wurden sie von einem künstlerischen Team des Deutschen Theaters unterstützt. Weitere Projektpartner waren die Dr. Michael Dethloff Stiftung aus Warschau und das Stanislavsky Electrotheatre aus Moskau. Im Fokus des Projekts stand die Tradierung bzw. Transformation politischer Anschauungen, insbesondere die Sicht auf Menschenrechte von Generation zu Generation.

In der ersten Projektphase arbeiteten die Jugendlichen biographisch: Sie führten Interviews mit ihren Eltern und Großeltern aus Ost- bzw. Westdeutschland, Polen und Russland. In allen drei Ländern besuchten sie wichtige Erinnerungsorte und trafen Menschen, die Geschichte aktiv mitgestaltet haben. Dabei bemühten sie sich, die politische Geschichte sowie die persönlichen Lebenswege der jeweiligen Personen nachzuvollziehen. In der zweiten Phase trugen die Jugendlichen die Ergebnisse der Interviews mit biografischer Recherche und szenischen Improvisationen zu einer Collage zusammen. In Kleingruppen arbeiteten sie szenische Skizzen aus, die vor allem das Verhältnis der verschiedenen Altersgruppen zur Politik beleuchten. Diese szenischen Miniaturen wurden anschließend weiterentwickelt und von der Gruppe bei der Premiere am Deutschen Theater in Berlin zur Aufführung gebracht.

Die Macht des Theaters

Die ersten beiden Projekte zeigten, wie sehr sich die Jugendlichen verändern und wie viel Theater bewegen kann. Die vertiefte Auseinandersetzung mit Biografien von Familienmitgliedern und mit den Schicksalen von Zeitzeugen führte dazu, dass bei den Teilnehmenden ein sehr persönliches, manchmal sehr emotionales Verhältnis zu den Ereignissen entstand.

So war es ein großer Schock für die jungen Schauspieler*innen, als sie im Zusammenhang mit der Geschichte des Zweiten Weltkriegs entdeckten, wie sich die historischen Narrative in einzelnen Ländern unterscheiden und dass Fakten bisweilen nicht publik gemacht oder verschwiegen werden.

Viele Teilnehmer*innen bekamen einen neuen Blick auf ihre Altersgenossen aus den anderen Ländern, und sie konnten so manches geschichtliche Ereignis erst dann verstehen, wenn sie es durch fremde Augen betrachteten. Verblüfft entdeckten die Jugendlichen, wie viele Eigenschaften, Interessen und Leidenschaften sie teilen. Mythen und Stereotypen bröckelten, und an ihre Stelle traten intensive Verbindungen.

„Das Wissen, das ich nicht nur über die Solidarność und mein Land, sondern auch über mich selbst gewonnen habe – ich denke, das ist etwas, wovon ich noch lange profitieren werde, wie vermutlich alle Teilnehmenden. Innerhalb von nur einem Tag ist es uns gelungen, eine unglaubliche Verbindung entstehen zu lassen, uns wie eins zu bewegen, etwas zu erschaffen, bevor wir auch nur etwas über einander wussten. Die Lehren von 1989 sind selbst nach 30 Jahren noch genauso aktuell wie früher, da wir wachsendem Populismus und turbulenten Zeiten gegenüberstehen.”

Rohan Tryc Bromley, Schüler der Akademeia High School, Warschau

Möglich wurde dies unter anderem durch Theater als Arbeitsmethode. Die Regisseurin und das Team schufen einen sicheren Raum, in dem Gefühle und Emotionen ausgedrückt werden konnten. Sich entdecken und gegenseitige Nähe aufbauen – für manche verlief dieser Prozess schneller, für andere langsamer, er erfasste aber irgendwann alle Gruppenmitglieder. Das Verständnis füreinander wurde auch dadurch befördert, dass sich alle Teilnehmenden auf Englisch austauschen und nicht in ihrer Muttersprache. Alle teilten so die Erfahrung, in einer Fremdsprache zu sprechen, in der man anders formuliert und seine Gedanken anders ausdrückt.

Veränderungen

Bisher sind alle Teilnehmenden nach unseren Projekten verändert nach Hause gefahren. Eine Aufführung zu erarbeiten, sie an professionellen Theatern in Deutschland, Polen und Russland aufführen zu können, das gegenseitige Kennenlernen, die Beschäftigung mit der eigenen Familiengeschichte, aber auch die Möglichkeit, Zeitzeugen zu treffen und mit ihnen zu sprechen – all dies war für viele eine große Bereicherung und ein wichtiger Moment in ihrem Leben, wie sie bei der Auswertung des Projekts sagten.

Zitiervorschlag

BKJ: „30.past.89” – Geschichte auf der Bühne
https://www.bkj.de/internationales/deutsch-polnischer-jugendkulturaustausch/wissensbasis/beitrag/30past89-geschichte-auf-der-buehne/
Remscheid und Berlin, .

Typo: 321

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