Aus der Praxis
Tanz und Teilhabe
Ein digitales internationales Tanz- und Denklabor
23.08.21
Auf trinationalem Parkett sollten die ganz großen Fragen verhandelt werden. Im Rahmen eines Tanz-Camps hätten sich junge Menschen aus Frankreich, Deutschland und Spanien mit Ursachen und Folgen des Klimakollapses künstlerisch auseinandersetzen sollen.
von Kathrin Köller
Foto: Dekanat Saabrücken
Foto: Dekanat Saabrücken
Foto: Dekanat Saabrücken
Foto: Dekanat Saabrücken
Foto: Dekanat Saabrücken
Foto: Dekanat Saabrücken
Aber im Sommer 2020 kann das Camp in der geplanten Form nicht stattfinden. Gemeinsame körperliche Tanzarbeit, zusammen Essen und Übernachten ist in diesem Jahr unmöglich. Trotzdem ist die Frage zu wichtig, sind die jungen Menschen zu wichtig, als dass man das Ganze einfach so hätte absagen wollen. Also wird umgeplant beim Dekanat Saarbrücken, der Association de parrainage-jumelage Forbach in Frankreich und bei der spanischen Organisation Associació D'idees Estiliterârilliure. Die geplante reale Begegnung in Nantes wird verschoben. 2020 bleiben die Jugendlichen zu Hause und treffen sich international – im digitalen Tanz- und Denklabor „Fragil oder die Parabel vom Angelus Novus“.
Mehr Teilhabe
„Dass wir dieses Camp digital gemacht und uns nicht dem Virus gebeugt haben, das finde ich außergewöhnlich“, erklärt Dzenita, eine junge Teilnehmerin, und es stellt sich heraus, dass der digitale Raum auch jungen Menschen die Teilhabe am Camp ermöglicht hat, die analog nicht hätten dabei sein können. Da ist die 15-jährige Khuloud aus Saarbrücken, die weiß:
„Meine Eltern hätten mich sicher nicht mit nach Nantes fahren lassen. Sie sind sehr religiös und auf uns Mädchen wird sehr genau aufgepasst. So konnte ich von Zuhause alles mitmachen. Das war cool.“
Khuloud, Teilnehmerin
Wer daheim kein Endgerät oder eingeschränkte Wohnverhältnisse hat, kann in mehreren beteiligten Städten für die digitale Projektarbeit in ein Basiszentrum gehen, in denen Laptops und Räume zur Verfügung stehen.
Wachsende Räume
Und dann macht der Zufall den digitalen Raum nochmals ganz unerwartet weit auf. Am zweiten Tag der ersten Woche entdecken auf der Straße lebende Jugendliche aus Lima das Projekt, nehmen Kontakt auf und tanzen dann regelmäßig über ein Handy bei den abendlichen Tanz-Workshops mit. Das alles während in Lima eine radikale Ausgangssperre herrscht. Die Jugendlichen treffen sich an Plätzen mit öffentlichem Internetzugang, von denen sie, falls Polizei auftaucht, schnell wieder verschwinden können. „Aufregende Begleiterscheinungen in einem so offenen digitalen Konzept“, schreibt Heiner Buchen, Leiter des Projekts, in einem Projektbericht. Analog wäre die spontane Integration und Teilhabe dieser Straßenkinder nicht möglich gewesen. Das Digitale ermöglicht hier offenere Konzepte und Begegnungen auch über den europäischen Tellerrand hinaus.
Mila aus Saarbrücken hat genau das sehr beeindruckt. „Wir haben uns mit Kapitalismus auseinandergesetzt, was er bewirkt, wer Gewinner und wer Verlierer sind. Dadurch, dass sich spontan Leute aus Lima in das Projekt eingeklinkt haben, hatten wir Livekontakt mit Menschen, die absolute Verlierer des Systems sind, die morgens nicht wissen, wo sie abends schlafen.“
Partizipation pur!
Doch zurück zum Anfang. Als Pastoralreferent Heiner Buchen im März 2020 an der ersten Zoom-Konferenz seines Lebens teilnimmt, wird ihm klar, es sollen die gleichen Themen behandelt werden, es soll die Dualität von politisch-philosophischen Fragen und Tanz geben, aber so ein digitaler Workshop muss anders funktionieren als ein analoger. Klar wird auch: Das pädagogische Team kann die digitale Konzeption nicht alleine vornehmen. Also werden von Anfang an Jugendliche an der Planung des Tanz- und Denklabors beteiligt. In 22 großen Konferenzen wird das Konzept gemeinsam umgebaut.
Die technische Leitung übernehmen ein Informatikstudent und der 15-jährige Nicolas. Für ihn war es eine außergewöhnliche Erfahrung. „Ich war für die digitale Kommunikation mitverantwortlich. Superspannend – die vielen Bildschirme, die Kopfhörer. Ich kam mir vor wie ein Fußballreporter bei Sky.“ Und auch der über 60-jährige Heiner Buchen ist begeistert, in welch ungeahntem Ausmaß die Nutzung digitaler Tools eine frühe und intensive Partizipation der Teilnehmer*innen ermöglicht. Und zumindest diese Art der Projektplanung ist für ihn definitiv kein One-Off.
„Unsere ganze Vorbereitung werden wir in Zukunft noch partizipativer gestalten können, weil wir all diese Plattformen nutzen und super gut miteinander kommunizieren können. So können wir uns wirklich versammeln.“
Heiner Buchen, Projektleiter
Ganz Auge und Ohr!
Im Sommer 2020 steht mithilfe aller ein ausgeklügeltes Programm. Das digitale Tanz- und Denklabor findet hauptsächlich über Videokonferenzen, Livestreams und Chaträume statt. Es gibt sechs thematische Gruppen zu den inhaltlichen Themen Kapitalismus, Auswirkungen desselben auf Beziehungen, Europäische Dominanzkultur, Zustand der Erde, Nachhaltigkeit und Walter Benjamins Angelus Novus. Zwei dieser Themen wählen die Teilnehmer*innen aus und setzen sich in Movement Labs sowohl inhaltlich als auch tänzerisch damit auseinander. Dabei arbeiten sie One-on-One mit verschiedenen Choreograf*innen zusammen, erhalten Impulse, aus denen sie dann schließlich vor dem Bildschirm eigene Tanzelemente entwickeln. Abends gibt es abwechselnd inhaltliche und tänzerische Workshops mit allen Teilnehmer*innen zusammen.
Was kompliziert klingt, hat auch durchaus seine Grenzen im Vergleich zu „echten“ Treffen und analoger Tanzarbeit. Es läuft alles intensiv über Auge und Ohr, der Kontakt ist begrenzt. Und die 15-jährige Oihane aus dem spanischen Olot spricht allen aus der Seele, wenn sie sagt: „Das allein Tanzen ist so passend für heute. Jeder ist für sich. Die Corona-Krise vereinzelt uns noch mehr.“ Und gleichzeitig sagt sie deutlich: „Tanz hilft mir in diesem Sommer sehr, den Lockdown zu vergessen. Der Austausch mit anderen Jugendlichen aus Europa, denen es ähnlich geht, tut gut.“ Heiner Buchen erwähnt die andere Seite der Medaille: „Intimität ist ein Wort, das im Vergleich zu den Workshops anderer Jahre diesmal sehr häufig gefallen ist. Die One-on-One-Arbeit mit den Choreograf*innen war sehr eng und die Teilnehmer*innen haben sich sehr intensiv und persönlich mit den Themen auseinandergesetzt.“
Auf dem Weg nach Nantes
Aus den vielen kleinen Audio- und Videosequenzen ist jetzt ein Film und jede Menge Diskussionsmaterial entstanden, das im Jahr 2022 auf jeden Fall mit dabei ist und zur vertieften Auseinandersetzung dient, wenn sich die Jugendlichen dann hoffentlich ganz echt und analog auf den Weg nach Nantes machen.
Das Projekt „Fragil oder die Parabel vom Angelus Novus“ vom Dekanat Saarbrücken/Deutschland, der Association de parrainage-jumelage, Forbach/Frankreich und der Associació d’idees Estiliterârilliure, Sant Jaume de Llierca/Spanien wurde von der BKJ im Rahmen des Deutsch-Französischen Jugendkulturaustauschs begleitet und aus Mitteln des Deutsch-Französischen Jugendwerks (DFJW) im Rahmen der Projektausschreibung „Digital ganz nah“ gefördert.
FRAGIL 2020 - European dance project @DigitalSphere
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