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Position
Zukunftsvision „Digitalität gestalten“
Ein Plädoyer für Mut, Weitsicht und einen langen Atem
27.05.21
In einer Gesellschaft, die „Digitalität“ statt „Digitalisierung“ sagt und meint, wird der Umgang mit digitalen Techniken zur kulturellen Gestaltungsaufgabe, sind digitale Räume auch öffentliche Räume, die die Interessen von Kindern und Jugendlichen berücksichtigen.
In so einer Gesellschaft sind kulturelle Bildungslandschaften mit analog-digitalen Schnittstellen ein wichtiger Möglichkeitsraum für Bildungsgerechtigkeit und Teilhabe.

Susanne Keuchel ist Direktorin der Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW, Vorsitzende der BKJ und Präsidentin des Deutschen Kulturrats. Ihre Forschungsschwerpunkte sind u. a. Empirische Kulturforschung und neue Technologien im Kulturbereich.
Foto: Uwe Schinkel
Es war einmal … eine Zeit, da wurde innerhalb der Bildung und auch innerhalb der Kulturellen Bildung darum gerungen, ob es wirklich sinnvoll sei, digitale kulturelle Bildungsangebote zu entwickeln. Es war einmal eine Zeit, da Wissenschaftler wie Manfred Spitzer (2014) den Digitalpakt für Schulen als „Verdummungsmaßname“ bezeichneten und so bestehende Zweifel der Pädagog*innen zusätzlich schürten.
Pre-Pandemischer Kurswechsel innerhalb der Kulturellen Bildung
In den letzten Jahren hatte sich dieser Diskurs innerhalb der Kulturellen Bildung jedoch deutlich verändert. Angesichts des zentralen Platzes, den digitale Techniken und Räume bei Kindern und Jugendlichen einnehmen, wurde nicht mehr mit der Frage gerungen, ob oder ob nicht, sondern vielmehr wurden Fragen formuliert, wie der Transfer in analog-digitale kulturelle Bildungspraxis gelingen kann. Eine Bestandsaufnahme (Keuchel/Riske 2021) verdeutlicht dabei (siehe in diesem Heft S. 47 Grafiken): Es fehlt an digitaler Technik, Infrastruktur und Ressourcen der Administration, es fehlt an Fortbildungen und vor allem an analog-digitalen kulturellen Bildungskonzepten.
„Digitalität“ unterstreicht den längst existierenden Zustand einer analog-digital strukturierten Gesellschaft. Daher bedarf es einer analog-digitalen Transformation von Bildungsprozessen.
Prof.in Dr.in Susanne Keuchel
Innerhalb dieses sich verändernden Diskurses wurden jedoch nicht nur eine Inventur der Defizite im eigenen Handlungsfeld gemacht und daraus verbundene politische Unterstützungsbedarfe abgeleitet, wie bspw. ein Digitalpakt 2.0 (vgl. BKJ 2020a) für die außerschulische (kulturelle) Bildung. Zugleich wurde sich sehr intensiv mit der digitalen Interessenlage und Lebenssituation der Kinder und Jugendlichen auseinandergesetzt. Ein Zeugnis für diese sehr umfassende Auseinandersetzung mit diesen Fragen ist das Positionspapier der BKJ (2020b) „Digitalität gestalten“, das innerhalb des Verbands partizipativ entwickelt wurde.
Verantwortungsübernahme für analog-digitale kulturelle Teilhabe
Hier wurde die Haltung, dass Kinder und Jugendliche besser und selbstverständlicher als viele Pädagog*innen mit digitalen Techniken umgehen können, differenziert betrachtet. Denn Forschung verdeutlicht, dass es wie im Analogen auch in der digitalen Teilhabe Chancenungleichheiten gibt, dass junge Menschen aus bildungsbenachteiligten Kontexten eingeschränktere digitale Zugänge haben, dass sie sich selbst weniger künstlerisch-kreativ mit digitalen Techniken auseinandersetzen und folglich ihre Positionen im Digitalen weniger sichtbar sind. Zudem bedarf es, für den emanzipierten Umgang mit digitalen Techniken, grundsätzlich Unterstützung. So zeigten sich junge Menschen in Teilen sehr unzufrieden über die Zustände in sozialen Netzwerken und digitalen Plattformen, bspw. bezogen auf Mobbing, Hate Speech und kommerzielle Praktiken. Die Hälfte der 14- bis 24-Jährigen war laut einer bundesweiten Jugendbefragung 2018 (Keuchel/Riske 2020) der Meinung, dass ihr Verhalten indirekt stark durch die sozialen Medien beeinflusst wird. Auch wünschten sie sich (ebd.) bspw. mehr Schutz für ihre persönlichen Daten (81 Prozent) und möchten, dass Vergehen, wie sexuelle Belästigung oder Mobbing, online wie offline, bestraft werden (80 und 71 Prozent), oder dass bspw. kulturelle (Bildungs-)Inhalte digital zur Verfügung gestellt werden (65 Prozent). Denn vergleichsweise spät wurde von der Politik erkannt, dass das menschliche Miteinander in digitalen Räumen als öffentlich bewertet und daher ebenso geregelt werden sollte wie in analogen Kontexten. Dass dies lange Zeit versäumt wurde, lag und liegt auch daran, dass der digitale Wandel oft nur aus technischen und ökonomischen Perspektiven heraus betrachtet wird.
Digitalität – Eine kulturelle Gestaltungsperspektive
Der Umgang mit digitalen Techniken sollte jedoch immer auch aus einer kulturellen gestalterischen Perspektive erfolgen. Dies zeigt sich schon am Beispiel des Digitalitätspakts Schule: Ein Fehler war hier die Annahme, ein Medienkonzept für die (Aus-)Gestaltung formaler Bildungsprozesse beim Digitalpakt Schule sei schnell zu entwickeln, ein weiterer Fehler war die einseitige isolierte Perspektive auf das Digitale, eben auf Technik und Ausstattung. Hier wäre es sinnvoller gewesen mit dem Konzept der „Digitalität“ statt dem der „Digitalisierung“ zu arbeiten.
„Digitalität“ unterstreicht den längst existierenden Zustand einer analog-digital strukturierten Gesellschaft. Daher bedarf es einer analog-digitalen Transformation von Bildungsprozessen, die in diesem Sinne neben dem Digitalen auch immer das Analoge – mit den jeweiligen Stärken – in den Blick nimmt. Digitalität ist somit kein Add-on, sondern führt unweigerlich zu einer Reorganisation von Bildungsprozessen und -strukturen in ihrer Gesamtheit. Eine einfache Duplizierung analoger Bildungsprozesse ins Digitale kann sogar nachteilig sein. Stattdessen sollten sehr konkret Vorteile des Analogen und des Digitalen genutzt werden, bspw. die digitale Loslösung von Zeit und Raum sowie interaktive Prozesse zur Unterstützung individueller Lernprozesse. Entscheidend ist dabei, dass analog-digitale Schnittstellen geschaffen werden, die Synergieeffekte ermöglichen.
Die Pandemie – Ein Sprung ins kalte Wasser
Mit der Corona-Pandemie erfolgte dann der Sprung ins kalte Wasser. Um den Kontakt mit Kindern und Jugendlichen im Lockdown 2020 und 2021 halten zu können, wurden – ohne eine eben skizzierte notwendige politische Unterstützung – von heute auf morgen digitale Formate für die Kulturelle Bildung entwickelt. Dabei wurden durchaus wichtige Erkenntnisse für den weiteren Prozess der Digitalität von Bildung gewonnen: bspw. der hohe Stellenwert des Experimentierraums, der notwendig ist, um überhaupt neue Bildungskonzepte entwickeln zu können, oder die Erkenntnis, das analoge Förderlogik nicht auf das Digitale übertragbar ist.
Die Herausforderungen der Pandemie haben Spuren bei einer Vielzahl der Akteur*innen hinterlassen: Finanzielle Existenzängste, aber auch die notwendige Flexibilität, Angebote immer wieder den pandemischen Bedingungen anzupassen oder Crashkurse in digitaler Technik zu absolvieren, ohne dass sich die infrastrukturellen digitalen und fortbildungstechnischen Ausgangsvoraussetzungen wirklich verbessert hätten, haben zu einer Ermüdung geführt. Zugleich ist die Sehnsucht nach einer analogen Bildungspraxis in der Pandemie in gleichem Maße wieder gewachsen, da das Analoge Vorteile besitzt, die das Digitale nicht hat, wie auch umgekehrt das Digitale eigene Qualitäten birgt, die das Analoge nicht leisten kann.
Das Ziel nicht aus den Augen verlieren
Mit Blick auf die Interessenlage und Lebenssituation der Kinder und Jugendlichen, aber auch der Konsolidierung der eigenen kulturellen Bildungspraxis bleibt zu wünschen, dass das Feld einen langen Atem bewahrt und zugleich mit einem Digitalpakt 2.0 für die außerschulische Kultur und Bildung politischen Rückenwind erhält, der Experimentierraum für die Gestaltung von Bildung in der Digitalität ermöglicht. Denn es geht um mehr als nur die Integration von digitaler Technik. Eng verknüpft sind hiermit auch Fragen der Ökonomisierung und Nachhaltigkeit: Beispielsweise ist die gängige Praxis, Eltern an der Finanzierung von analogen, außerschulischen kulturellen Bildungsangeboten zu beteiligen, schwer übertragbar auf heutige Logiken des Digitalen. Im Digitalen werden Zugänge vielfach nicht mit Geld, sondern unbewusst mit der Währung eigener Daten bezahlt. Auch herrschen unverbindlichere und flexiblere Formen der Teilnahme vor. Warum also nicht im Sinne der aktuellen Trendwende einen Wechsel weg von der Ökonomisierung hin zur Nachhaltigkeit? Warum nicht den Mut haben, Kulturelle Bildung für Kinder und Jugendliche als gesamtgesellschaftliche und daher öffentlich geförderte Aufgabe zu verstehen und analog wie digital kostenfrei zugänglich zu machen, bspw. in Analogie zum ÖPNV? Hier gibt es auch zunehmend Länder und Städte, die den ÖPNV ihren Bürgern kostenfrei zur Verfügung stellen, da alle davon profitieren, wenn sich der Individualverkehr reduziert.
Warum also nicht im Sinne der aktuellen Trendwende einen Wechsel weg von der Ökonomisierung hin zur Nachhaltigkeit? Warum nicht den Mut haben, Kulturelle Bildung für Kinder und Jugendliche als gesamtgesellschaftliche und daher öffentlich geförderte Aufgabe zu verstehen und analog wie digital kostenfrei zugänglich zu machen?
Prof.in Dr.in Susanne Keuchel
Digitalität eröffnet auch neue Chancen für kulturelle Bildungslandschaften: Denn Vernetzung ist ein Grundprinzip digitaler Techniken. Spannend sind dabei auch Fragen zur Globalisierung, Lokalisierung und Diversität. Der digitale Raum ist zeitlich und räumlich entgrenzt. Unsere Bildungsangebote wurden bisher jedoch vor allem lokal organisiert. Im digitalen Raum könnten Gruppen und Klassen international zusammengesetzt und digitale Besuche von jungen Menschen aus ländlichen Räumen im Louvre ermöglicht werden.
Zukunftsfragen sind gestalterische Prozesse
Die Krise hat gezeigt, dass vieles möglich ist, was zuvor als nicht möglich erachtet wurde. Warum also nicht diese als Chance nutzen und den digitalen, aber auch den gesellschaftlichen Wandel allgemein aktiv aus einer kulturellen Perspektive heraus neu gestalten? Fragen der Nachhaltigkeit im Sinne der UN-Agenda 2030 (UN 2015), aber auch die Weiterentwicklung von digitalen Techniken, hier bspw. Mensch und Maschine, sollten kulturelle Dimensionen frühzeitig in den Blick nehmen: Wem gehört die Arbeitsleistung von KI? Konzernen, Staaten oder der weltweiten Gemeinschaft? Welche humanen, kulturellen Techniken sollten Maschinen übertragen werden und welche nicht? Und v. a.: Wie unterscheiden sich Mensch und Maschine voneinander? Ist Intelligenz oder künstlerisches Potenzial wirklich eine humane Eigenart? Auch stellen sich viele grundsätzliche, ethische Fragen, da eine Maschine im Vorfeld auf ihr Verhalten hin programmiert werden muss. Im bisherigen humanen Zusammenleben wurden zwar Normen ausgehandelt und weiterentwickelt, die moralischen Entscheidungen vielfach aber auch offengelassen, zulasten der situativen Entscheidung des Einzelnen. Auch stellen sich grundsätzliche Fragen nach dem Sinn des Lebens, wenn KI und Robotik viele Arbeitsbereiche des Menschen übernehmen könnten.
Es gibt v. a. zwei gute Gründe, warum sich Kulturelle Bildung mit diesen gesellschaftspolitischen Zukunftsfragen beschäftigen sollte: Da ist zum einen ihre Anwaltschaft für Kinder und Jugendliche. Wie können junge Menschen − es geht schließlich um ihre Zukunft − innerhalb dieser Zukunftsdiskurse gestärkt werden, sich aktiv gestalterisch einzubringen? Und: Diese Zukunftsfragen sind eng mit den Existenzperspektiven der Kulturellen Bildung verbunden, angesichts der aktuellen wirtschaftlichen Situation und damit letztlich auch den zentralen Fragen von Bildung: Generationengerechtigkeit, globale Gerechtigkeit und gesellschaftlicher Zusammenhalt. Es wird Zeit, ein kulturelles Narrativ zu entwickeln: Es wird einmal …
Der Beitrag ist erstveröffentlicht in: Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e. V. (2021): Digital – Jugend Macht Transformation, kubi – Magazin für Kulturelle Bildung. No. 21-2021. Berlin. S. 48-52.

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