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Interview

Perfektion bitte!?

Im Gespräch mit Prof. Dr. Mark Schrödter, Universität Kassel

01.10.20

Hohe Bildungsstandards – für alle Kinder und Jugendlichen, dafür sollte Kinder- und Jugendhilfe stehen. Der Ruf nach Perfektion folgt dabei nicht dem Leitbild von Leistungserbringung und Produktionsergebnis, sondern dem der Qualität des Bildungsprozesses, im Verlauf dessen Zukunft gestaltet wird.

Prof. Dr. Kathrin Klein-Zimmer ist Professorin für Internationale/Transnationale Soziale Arbeit mit dem Schwerpunkt Kinder- und Jugendarbeit an der Hochschule Koblenz.

Welche Perspektive auf „Zukunft“ haben Jugendliche?

Ich betrachte den Begriff aus der Sicht der Sozialpädagogik. Jugend ist ein Moratorium, eine experimentelle Phase, in der junge Menschen ihre eigenen Selbst- und Weltverständnisse ausprobieren können. Die Übergangsphase ist ein gesellschaftlicher Raum, in dem sich Jugendliche in einem Zustand der strukturellen Verantwortungslosigkeit befinden, in dem sie also herumspinnen können, wer sie sein wollen und in welcher Gesellschaft sie eigentlich leben wollen. Für moderne, dynamische Gesellschaften ist das ein wichtiger Prozess, um Innovationen hervorbringen zu können. Darin liegt auch eine Erwartungshaltung der Gesellschaft. Sich Gedanken um Zukunft machen zu können, ist allerdings ungleich verteilt und abhängig von der Lebenssituation. Die Möglichkeit ist z. B. weniger ausgedehnt für Jugendliche ohne Schulabschluss, die sich beizeiten in teilweise prekären Lebenssituationen durchs Leben hangeln müssen. 

Es geht nicht darum, Kindern und Jugendlichen eine Zukunft zu ermöglichen, in der sie nützlich sind für den gesellschaftlichen Prozess der Produktion. Bildung ist Selbstzwecklichkeit, Bildung ist Bildung um ihrer selbst willen.

Prof. Dr. Mark Schrödter
 

Das heißt, wir müssten mehr Jugend ermöglichen?

Ja, dabei sollten wir uns um das Wertvolle mehr Gedanken machen, z. B. auch in der Auseinandersetzung mit Kultur, die in dieser Phase passiert: Wie gestalten wir diese Orte, in denen sie ihre Jugend und ihr Moratorium leben können? Was ist denn wertvoll beim Erschaffen und Aneignen von Kultur? Ist die Ausübung dieser kulturellen Tätigkeiten nicht an sich wertvoll, in dem Sinne, als dass sie unser Menschsein erst verwirklicht – egal, was es an Nutzen bringt? Das ist eine wichtige Bildungsperspektive und immer in Gefahr, weil unsere kapitalistische Gesellschaft dazu tendiert, alles dem Paradigma der Produktion zu unterwerfen. Und da „Jugend“ zurück zu gewinnen, um sie anspruchsvoll zu ermöglichen, das wäre die Herausforderung.

Welche Rolle spielen aktuelle gesellschaftliche Krisen für Jugend in Bezug auf Zukunft: Klima, Demokratie, Corona …?

Ich weiß gar nicht, ob es diese Krisen sind, die Perspektiven auf die Zukunft beeinflussen. Es gibt ja immer solche epochalen besonderen Ereignisse, an denen sich – mit Karl Mannheim gesprochen – Jugend überhaupt erst konstituiert. Und das sind dann diese Kristallisationspunkte, an denen sie mit der älteren Generation sozusagen in einen Streit geht. Der ist für moderne Gesellschaften ganz wichtig. 

Welche Veränderungen stellen Sie für die Jugendphase fest?

Das lässt sich schwer nachzeichnen. Was ich sagen kann, ist, dass sich etwa in den neuen Medien eine gewisse Veränderung ausdrückt. Da haben wir es mit der Omnipräsenz der Perfektion einerseits und einer Omnipräsenz der Blenderei andererseits zu tun. Durch die neuen Medien sind es Jugendliche gewohnt, überall perfekte Praxis präsentiert zu bekommen. Sie schalten YouTube an und können sich perfekt inszenierte Videos angucken. Durch die Blenderei, d. h. die simulierte Perfektion, besteht die Gefahr, das Verhältnis dazu zu verlieren, wie anstrengend es ist, sich komplexe Güter anzueignen und zur Perfektion zu gelangen. Etwa Fake-Fans über soziale Medien zu gewinnen, ist ein Paradigma der Produktion, der Blenderei, und lässt vergessen, wie anstrengend, aber auch faszinierend es ist, z. B. Freundschaft zu leben. Oder diese makellos produzierten Musiksongs und -videos, die uns mit aufwändigen Schnitten und Nachbearbeitungen einerseits darüber täuschen, wie schlecht so manche*r Künstler*in singen und tanzen kann und andererseits auch darüber, wie mühsam der Prozess war, in dem so manch gute*r Sänger*in und Tänzer*in das eigene Genre zur Perfektion gebracht hat. Wir haben ein schwieriges Verhältnis zur Perfektion.

Gerechtigkeit ist ein großes Thema. Welches Modell ist Ihrer Meinung nach tragfähig für die Zukunft?

Aus bildungstheoretischer Perspektive geht es um Befähigungsgerechtigkeit, d. h., dass alle Kinder und Jugendlichen ihr Vermögen entdecken und ausbilden. Das würde verlangen, dass wir für Kinder und Jugendliche aller gesellschaftlichen Schichten hohe Standards der kulturellen Perfektion zugänglich machen. Mit Perfektion ist dabei nicht die Verwertung oder Leistungserbringung gemeint, sondern die Auseinandersetzung mit Methoden, mit Material, der Selbstausdruck. Dahinter steht die Erkenntnis, dass wir uns so als Mensch verwirklichen. 

Gerechtigkeit heißt immer auch, Ressourcen neu zu verteilen. Was bedeutet das für die Jugendhilfe?

In meinem Forschungsbereich, etwa der Heimerziehung, werfe ich in sozialpädagogischer Perspektive gern den Blick auf eine ganz andere stationäre Unterbringung von Jugendlichen: das Internat. Auch wenn es hier um privilegierte, nicht um traumatisierte Jugendliche wie in der Heimerziehung geht, sind es beides Orte mit der gleichen Funktion. Dennoch ist die ganze Institution Internat darauf ausgelegt, Kindern und Jugendlichen die Bandbreite kultureller Güter und die Fähigkeit, sich in diese hineinzuarbeiten, zu vermitteln. Diesen Bildungsaspekt würde ich mir stärker auch für die Heimerziehung wünschen.

Was müssen wir – Träger der Jugend- und Kulturarbeit – tun, damit dieses Modell der Gerechtigkeit auch wirklich zum Tragen kommt?

Die Jugendhilfe müsste ihre Bildungsorientierung mit den Kindern und Jugendlichen umsetzen und selbstbewusst in der Öffentlichkeit, vor Politik und Verwaltung vertreten. Sie darf sich nicht auf Wirkungsperspektiven einlassen, auf die Perspektive der Produktion. Es geht nicht darum, Kindern und Jugendlichen eine Zukunft zu ermöglichen, in der sie nützlich sind für den gesellschaftlichen Prozess der Produktion. Bildung ist Selbstzwecklichkeit, Bildung ist Bildung um ihrer selbst willen. Diese bildungstheoretische Perspektive steht klar im Gegensatz zur kapitalistischen Produktionsperspektive, die etwa gute Noten zu erbringen in den Vordergrund stellt, um im Beruf und im Leben nach äußerlichen Kriterien erfolgreich zu sein.

Aus der gerechtigkeitstheoretischen Perspektive bedeutet das, dass wir nicht mehr Institutionen für die Wohlhabenden und für die De-Privilegierten haben, sondern eine Einheit der Jugendhilfe, die allen Kindern und Jugendlichen zur Verfügung steht.

Prof. Dr. Mark Schrödter

Inwieweit ist das Feld der Kinder- und Jugendarbeit überhaupt zukunftsfähig – wie müssen sich die Träger (weiter-)entwickeln?

Wir sollten die Institutionen in der Kinder- und Jugendhilfe viel mehr auf Bildung im anspruchsvollen Sinne auslegen – mit hohen Erwartungen, hohen Standards. Das muss zu einem Anspruch für alle Kinder und Jugendlichen werden.
Das würde aus der gerechtigkeitstheoretischen Perspektive am Ende bedeuten, dass wir nicht mehr diese beiden Institutionen haben: für die Wohlhabenden und für die De-Privilegierten. Das heißt, dass es eine Einheit der Jugendhilfe gibt, die allen Kindern und Jugendlichen zur Verfügung steht. 
 

Der Beitrag ist erstveröffentlicht in: Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e. V. (2020): Zukunft – jetzt utopisch gerecht No. 19, kubi – Magazin für Kulturelle Bildung. No. 19-2020. Berlin. S. 27 – 29.

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BKJ: Perfektion bitte!?
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Remscheid und Berlin, .

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