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Interview

Freiräume erobern!

Im Gespräch mit Prof.in Dr.in Cathleen Grunert

27.05.21

Qualifizierung, Verselbstständigung und Selbstpositionierung sind laut dem 15. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung Kernherausforderungen im Jugendalter. Zur Entwicklung der letzten zwei brauchen Jugendliche v. a. eins: Freiräume.

Prof.in Dr.in Cathleen Grunert leitet den Arbeitsbereich Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt soziokulturelle Bedingungen von Erziehung und Bildung an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

Sie beschäftigen sich mit den soziokulturellen Bedingungen von Bildung. Was verstehen Sie darunter?

„Soziokulturelle Bedingungen“ ist ein breiter Begriff. Im Prinzip geht es dabei um alles, was Erziehungs- und Bildungsprozesse von Kindern und Jugendlichen rahmt – also politische, kulturelle und soziale Bedingungen des Aufwachsens. Das kann man monokausal betrachten im Sinne von: Wie wirken sich diese Bedingungen auf Freundschaftsbeziehungen aus? Wie wirken sich die Strukturbedingungen des Bildungssystems, des Kultursystems u. s. w. auf Kinder und Jugendliche aus? In meinem Arbeitsbereich interessiert uns jedoch verstärkt, was Kinder und Jugendliche mit diesen Bedingungen machen, wie sie sich dazu ins Verhältnis setzen.

Und welche Rolle spielt dabei das Thema „Raum“ bzw. „Ort“?

Mit dieser konstruktivistischen Perspektive sind wir ganz schnell bei der Frage von Ort und Raum, denn das bedeutet für uns konkret: Welche sozialen und auch materiellen Bedingungen finden Jugendliche an den Orten ihrer Lebenswelt vor, wie verknüpfen sie diese zu eigenen Räumen und wie werden darüber Bildungsprozesse ermöglicht, aber auch begrenzt?

Welche Bedeutung messen Sie außerschulischen Bildungsräumen für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen bei?

Eine große. Aber auch hier müssen wir unterscheiden und uns fragen, was die Anforderungen sind, die in diesen Räumen an Kinder und Jugendliche gestellt werden. Auf der einen Seite gibt es außerschulische Räume als vorgefertigte Lernarrangements. Und auf der anderen Seite haben wir auch Räume, wie z. B. Jugendzentren oder Jugendclubs, die für die Selbstpositionierung und Verselbstständigung eine wichtige Rolle spielen, weil sie den Jugendlichen mehr Freiräume geben, sich auszuprobieren. Beides sollten wir im Blick haben.

Ich glaube, Jugendliche brauchen viel stärker noch Freiräume, deshalb sollten sie selbst viel mehr in der Hand haben, was an außerschulischen Bildungsorten und auch im öffentlichen Raum passiert.

Prof.in Dr.in Cathleen Grunert

Welche Rolle spielt Ihrer Ansicht nach der Verein als Ort für Kinder und Jugendliche – jetzt und in Zukunft?

Aus der Forschung wissen wir, dass die Jugendlichen selbst den Verein häufig als einen Ort reflektieren, wo sie soziale Kompetenzen erwerben und Selbstständigkeit entwickeln. Was die Zukunft anbelangt, gibt es wiederum zwei Perspektiven. Die Befunde der Jugendforschung zeigen, dass sich Jugendliche mit zunehmendem Alter immer weniger auf organisierte Formen von Aktivität einlassen. Und auch generell scheint es einen Trend zu eigenen Initiativen und Projekten zu geben. Zum anderen haben wir im dritten Engagementbericht der Bundesregierung gesehen, dass aus solchen Initiativen zum Teil wieder neue Vereine entstehen – auch aus neuen Formen der Selbstorganisation im Rahmen der Digitalisierung.

Ist Engagement, ist Selbstorganisation eigentlich ein ganz eigenständiger Ort? Vielleicht auch im digitalen Raum?

Das ist eine Diskussion, die momentan im Fluss ist und wozu man noch gar nichts Abschließendes sagen kann. Im Zentrum steht vielmehr die Frage: Was ist Engagement und was ist Partizipation? Die Tendenz bei den Jugendlichen geht, wie gesagt, zu individuellen oder auch fluiden Aktivitäten und die spielen sich verstärkt auch im digitalen Raum ab: WhatsApp-Gruppen, Beteiligung an Foren, eigene Blogs, Websites und Youtube-Kanäle – auch zu gesellschaftlich-politischen Themen – sind gängige Praktiken. Diese nur als „Clicktivism“ oder „Slacktivism“ abzutun, finde ich sehr gefährlich, weil das mittlerweile Formen sind, die die politische Sozialisation und demokratische Willensbildung der Jugendlichen sehr stark beeinflussen. Besser wäre es aus einer pädagogischen Perspektive heraus mit den Jugendlichen zu besprechen: Wie bewege ich mich im digitalen Raum? Und was macht das mit meiner Selbstpositionierung zu gesellschaftlichen Fragen? Wenn wir dann noch Strategien und Formen finden, die an den Interessen und Aktivitäten der Jugendlichen stärker ansetzen, kann man sich sicher besser aufeinander zu bewegen.

Noch immer sind Lebenswelten von vielen jungen Menschen „verinselt“. Familie da, Schule hier, Freizeit dort. Worauf sollte die außerschulische Bildungsinsel besonders achten?

Die Diskussion um die Bildungsinseln finde ich problematisch. Jugendliche werden dadurch ständig mit dem Imperativ konfrontiert: Ihr müsst euch bilden! Ich weiß nicht, ob wir nicht einen Fehler machen, wenn wir die jungen Menschen nur noch von einem Angebot zum nächsten schicken und sie überwiegend in pädagogischen Räumen „halten“. Ich glaube, Jugendliche brauchen viel stärker noch Freiräume, deshalb sollten sie selbst viel mehr in der Hand haben, was an außerschulischen Bildungsorten und auch im öffentlichen Raum passiert.

Sehen Sie Unterschiede zwischen den außerschulischen Orten auf dem Land und in der Stadt?

Im ländlichen Raum haben die Kinder und Jugendlichen weniger Zeit außerhalb der Schule. Sie verbringen nicht nur viel Zeit in der Schule, sondern haben zusätzlich oft längere Schulwege. In einer Online-Recherche haben wir geschaut, wo Jugendliche potenziell im kulturellen Bereich teilhaben können. Dabei wurde deutlich, dass die Schule im ländlichen Raum ein starker Player ist, der fast 80 Prozent der kulturellen Angebote stellt. Was macht das mit den Jugendlichen? Können sie sich dann noch außerhalb der schulischen Räume kulturell betätigen? Das sind wichtige Fragen, die gleichzeitig auch einen Effekt auf die Vereinslandschaft im ländlichen Raum haben.

Gerade in der Corona-Zeit zeigt sich, was die außerschulischen Orte sonst leisten. Besonders für Kinder und Jugendliche aus sozioökonomisch schwierigeren Milieus, aber auch für alle anderen, stellen sie eine Infrastruktur und einen geschützten Raum bereit.

Prof.in Dr.in Cathleen Grunert

Welche Bedeutung messen Sie den unterschiedlichen kulturellen Bildungsorten bei?

Aus einer bildungstheoretischen Perspektive betrachtet, ist jeder Ort, an den Kinder und Jugendliche anknüpfen können, an dem sie für sich eine Sinnebene finden und sich mit sich selbst und der Welt auseinandersetzen können, ein wichtiger Raum, ein potenzieller Möglichkeitsraum. Dabei muss aber immer geschaut werden, wie sich Zugänge gestalten und wo es In- und Exklusionstendenzen etwa im Hinblick auf die soziale, die ethnische oder auch regionale Herkunft gibt. Davon hängt sehr stark ab, ob die Jugendlichen überhaupt Anschlüsse an Kulturelle Bildung finden.

Was macht es mit Kindern und Jugendlichen eigentlich, wenn diese außerschulischen Orte für sie nicht erreichbar sind, sei es, weil die Hürden groß sind oder weil sie in der Corona-Krise schließen?

Es gibt noch keine konkreten Ergebnisse aus der Forschung dazu. Aber ich finde es sehr schwierig, dass lange Zeit gar nicht an solche Fragen gedacht wurde. Diese Diskussion ist eigentlich nur unter der Perspektive der Qualifizierung geführt worden. Doch gerade in der Corona-Zeit zeigt sich, was die außerschulischen Orte sonst leisten. Besonders für Kinder und Jugendliche aus sozioökonomisch schwierigeren Milieus, aber auch für alle anderen, stellen sie eine Infrastruktur und einen geschützten Raum bereit. Hier finden sie einen Ort, an dem sie ihren Interessen in einer anerkennenden Atmosphäre auch außerhalb der Familie nachgehen oder den manchmal auch problematischen Wohnverhältnissen entfliehen können und Unterstützung erfahren.

Der Beitrag ist erstveröffentlicht in: Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e. V. (2021): Unverzichtbar – Orte Kultureller Bildung, kubi – Magazin für Kulturelle Bildung. No. 20-2021. Berlin. S. 53– 55.

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