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Aus der Praxis
Dokumentarfilm statt Horror
Projekt „Filmwerkstatt FREIFilm“, Konrad-Zuse-Schule, Pfefferwerk Stadtkultur gGmbH, Brandenburger Filmverband, Berlin
06.10.20
Ganz langsam schneidet Sam die Tomaten für die Sauce. Schließlich soll es gut schmecken. „Wenn er gut gelaunt ist, macht er viele farbige Sachen“, sagt Alberto, der Besitzer einer kleinen Pasta-Manufaktur über den 18-jährigen Sam. „Ist er schlecht gelaunt, macht er Sachen mit weniger Farbe.“
Text: Kathrin Köller
Bild: Bernd Sahling
Sam ist der Held in diesem Werkstattfilm von und mit Schüler*innen der Berliner Konrad-Zuse-Schule mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Sams Mitschüler*innen standen vor und hinter der Kamera und erzählen mit ihrem Film eine berührende inklusive Kiez-Geschichte.
Noch vor einem halben Jahr hätten sich die drei Jugendlichen nie zugetraut, eine ganz eigene Geschichte, noch dazu in einem Film, zu erzählen. Vor einem halben Jahr fiel es ihnen manchmal schwer, überhaupt in der Filmwerkstatt von Bernd Sahling zu erscheinen. Doch der Kinderfilmautor und Regisseur hat mit den Jugendlichen im Rahmen des Förderprogramms vom Bundesverband Jugend und Film „Movies in Motion“ nicht nur einen Film entwickelt, sondern gleichzeitig auch ein Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten und eine Widerstandsfähigkeit, bei Misserfolgen nicht aufzugeben. Dafür braucht es Zeit. In einer Woche mit Kindern oder Jugendlichen einen Film zu drehen, ist Bernd Sahlings Sache nicht. Nicht, weil dabei nichts rauskäme. Auch in fünf Tagen können Heranwachsende viel über das Filmemachen erfahren. Organisatorisch und finanziell betrachtet ist das sogar vorteilhaft. Aber eine eigene Idee für einen Film zu entwickeln und über die Umsetzung nachzudenken, kann durchaus mehrere Wochen oder gar Monate in Anspruch nehmen.
Selbst ist das Kind
Bernd Sahling möchte, dass Kinder und Jugendliche Filme zu den Themen machen, die sie interessieren und dass sie erfahren, was alles dazugehört, um so ein Projekt zu stemmen. Mit der Ideenfindung geht es los. „Schüler*innen sind es nicht wirklich gewöhnt, dass sie selber die Entscheidungen für ein Projekt fällen müssen.“ Für die Kinder und Jugendlichen, die an den „Movies in Motion“-Werkstätten teilnehmen, ist das in sich Hineinhorchen und Herausfinden, was sie interessiert, oftmals eine neue und schwierige Erfahrung. „Weil sie aus ihrer Haltung heraus müssen“, erklärt der Autor. „Wenn sie in die Schule gehen, wird ihnen Wissen vermittelt und sie werden selten gefragt, was sie jetzt gerade wollen.“ Eine Stärkung des Selbstbewusstseins und der Selbstfindung, die Aufforderung zur Selbstpositionierung – und damit Widerstandsfähigkeit – kommt in unserer Gesellschaft oft zu kurz, findet Bernd Sahling. „Aber die Teilnahme an einer Filmwerkstatt kann da auf verschiedenen Ebenen durchaus eine Menge bewegen.“ Die erste Aufgabe der Werkstattleitung liegt daher darin, den Kindern und Jugendlichen beharrlich Fragen zu stellen, damit sie langsam ein Zutrauen zu eigenen Positionen entwickeln können.
Was wollen wir überhaupt?
Am Anfang wollen die meisten Horror oder Star Wars, weiß der Leiter verschiedener Film-Werkstätten, der gelassen auf diese Wünsche reagiert. Spielfilm geht nicht, sagt er, denn die Kinder werden einen Dokumentarfilm machen, „mit all den Freiheiten, die sie wollen, aber eben eine dokumentarische Erzählform.“ Filme, die andere Kinder gemacht haben, üben eine große Faszination aus und regen bei den aktuellen Teilnehmer*innen die Fantasie an. So was könnten wir auch? Es ist ein Teamprozess, herauszufinden, ob man was zu Polizeiarbeit, zu Tieren im Tierheim machen will oder ... zum Abschiednehmen und Tod. Für Letzteres hat sich ein Werkstatt-Team von Kindern in Basdorf gerade entschieden. Welche Themen die Kinder und Jugendlichen wählen, „überrascht mich jedes Mal aufs Neue“ erzählt Bernd Sahling begeistert, „und das macht mir riesigen Spaß an dieser Arbeit, dass die immer wieder mit Dingen kommen, die ich gar nicht erwartet hätte“. Oft sind es durchaus große gesellschaftliche und philosophische Themen, die Kinder bewegen, die aber erst einmal hinter der „Horror“-Fassade hervorgeholt werden müssen.
Durchhalten
Abschiednehmen und Tod also. Die Basdorfer Kinder überlegen gemeinsam, welche Eltern denn beruflich mit dem Thema zu tun haben. Die einen sind bei der Polizei, die anderen bei der Feuerwehr, ein Vater arbeitet in einem Bestattungsinstitut. Das sind schon mal gute Gesprächspartner*innen. Denn auch die Frage nach dem „Wie“ fordert viel Kreativität von den Kindern. Sie müssen bestimmen, wie sie ihre Geschichte erzählen, wie sie ihr Thema umsetzen wollen. Bernd Sahling bereitet die Kinder auf ihre Interviews vor, übt mit ihnen, wie man nicht nur vorbereitete Fragen runterrasselt, sondern zuhört und nachfragt. Gemeinsam bespricht das Werkstatt-Team, welche Szenen und Filmausschnitte es braucht. „Dann beginnen die Dreharbeiten und etwas, was ich für sehr wichtig halte, nämlich das Durchhalten.“ Die Kinder filmen, halten die Ton-Angel, wiederholen die Aufnahmen, warten. Und wenn alles im Kasten ist, ist der Film immer noch nicht fertig. „Dann kommt die Schnitt-Werkstatt und sie müssen ihr ganzes Material sichten, müssen überlegen, wie das montiert werden kann und dann den Rohschnitt besprechen.“ Das ist alles sehr mühsam und erfordert viel Durchhaltevermögen. Aber in der Zwischenzeit ist ein gestärktes Selbstbewusstsein entstanden. Und ein Film, der öffentlich präsentiert werden kann. „Was ich bei den Kindern beobachte, wenn sie einen Film durchgestanden haben, ist, dass sie unglaublich stolz sind. Das nehmen sie für den Rest ihres Lebens mit“, erzählt Bernd Sahling.
Werkstattfilm „Pastaladen Berlin“ ansehen
David gegen Goliath
Wenn die Filmwerkstätten Kindern und Jugendlichen Beharrlichkeit bei der weiteren Selbstfindung und der Verfolgung ihrer Ziele vermitteln, sind wichtige Ziele erreicht. Was den kritischen Umgang mit Medien angeht, so sieht Bernd Sahling die Filmwerkstätten allerdings nur als kleinen David gegenüber dem großen Goliath gewaltvoller Videospiele und Serien. „Eine Filmwerkstatt hilft natürlich insofern, dass Kinder und Jugendliche erlebt haben, wie etwas entsteht, von dem man keine Alpträume bekommt“, gesteht der Autor seiner eigenen Arbeit zu. Die jungen Menschen lernen, wie sich allein durch die Auswahl des gefilmten Materials Verschiedenes erzählen und manchmal auch manipulieren lässt. Trotzdem, wenn es um das Thema Verrohung durch gewaltverherrlichende Medien geht, sieht Bernd Sahling die Filmwerkstätten als einen Tropfen auf den heißen Stein, zu dem sich dringend weitere Tropfen gesellen müssen.
Der Beitrag ist erstveröffentlicht in: Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e. V. (2019): Widerstehen – sich selbst positionieren kubi – Magazin für Kulturelle Bildung. No. 17-2019. Berlin. S. 67 – 69.
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So heißt die Initiative des BJF, mit der er sich am BMBF-Programm „Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung“ beteiligt.
www.moviesinmotion.bjf.info
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erscheint dreimal jährlich
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