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Interview
Bildungschancen und Kulturelle Bildung in und nach der Krise
Interview mit Prof. Dr. Ivo Züchner, Philipps-Universität Marburg
04.06.20
In einer Krise wird alles auf seine Basisfunktion zurückgefahren, auch das Bildungssystem. Was bedeutet dann Bildungsgerechtigkeit in der Corona-Krise? Welche Rolle spielen Kooperationen und Ganztag? Erfahren wir einen Rollback oder Entwicklungsschub? Und wie kann Kulturelle Bildung handeln?
Prof. Dr. Ivo Züchner lehrt und forscht im Fachbereich Erziehungswissenschaften an der Philipps-Universität Marburg. Seine Arbeitsschwerpunkte sind außerschulische Jugendbildung, Jugendforschung, Ganztagsschule, soziale Berufe.
Es wichtig zu betonen, dass Bildungsangebote – ob nun digital oder dezentral, lokal in Einrichtungen – auch dazu da sind, einen kreativen politischen Diskurs zu führen und die Kinder und Jugendlichen als Persönlichkeiten wieder ernst zu nehmen.
Prof. Dr. Ivo Züchner
Wie verschärfen sich Bildungsungerechtigkeiten für Kinder und Jugendliche in der Corona-Krise mit Blick auf die Schule, u. a. durch Homeschooling?
Die Verlagerung ins Digitale erscheint mir nicht als das grundsätzliche Problem, auch nicht die Versorgung mit digitalen Geräten. Die Frage ist viel eher, was an Inhalten bei den Kindern und Jugendlichen ankommt, wie es ankommt und bearbeitet wird. Und welche Probleme entstehen dann und wie sind die Kinder und Jugendlichen in der Lage, diese zu lösen? Schule ist jetzt bei der Beschulung zu Hause sehr stark davon abhängig, inwieweit die Eltern gemeinsam mit ihren Kindern die Anforderungen bewältigen können. Da ist es sehr wahrscheinlich, dass Kinder mit Eltern, die auf weniger Bildungs- oder Zeitressourcen zurückgreifen können, weniger vermittelt bekommen und sich weniger intensiv mit Fachthemen beschäftigen.
Wie werden ungleiche Chancen auch bezüglich der Angebote der außerschulischen Einrichtungen deutlich?
Für Kleingruppen bzw. sehr gefestigte Gruppen oder den Einzelunterricht haben die verschiedenen Anbieter, sei es im Kontext von Musik, darstellenden Künsten etc., offensichtlich Wege gefunden, Angebote zu machen und Kurse aufrecht zu erhalten. Der Geigenunterricht oder Tanzkurs, der ja in der Regel auch entsprechend bezahlt werden muss, geht häufig auch digital weiter. Gerade die Bildungsangebote, die nicht so teuer sind, die nicht in festen Gruppen und nicht regelmäßig einmal die Woche stattfinden, sondern in Projektform oder auch in Kooperation mit Schule, scheinen als erstes wegzufallen.
Ich habe das Gefühl, dass sich gerade durch Corona das, was sich mühsam an Zusammenwirken zugunsten der Bildungschancen unabhängig vom Elternhaus entwickelt hat, wieder zerlegt wird.
Prof. Dr. Ivo Züchner
Und da ist anzunehmen, dass es gerade die Kinder sind, die weniger finanzielle Ressourcen haben, die dann plötzlich nicht mehr teilhaben. Und besonders für die Kinder im Alter von sechs bis 12 Jahren ist die soziale Isolation ein deutliches Thema. Sie entwickeln in diesem Alter eigene Interessen, machen sich in Teilen unabhängig vom Elternhaus, haben aber noch keine Strategien, wie die Jugendlichen, ihren Austausch und ihre Aktivitäten selbstständig ins Digitale zu verlegen. Für sie fielen der wichtige Kontakt zu Peers als auch die Freizeitaktivitäten, wo sie sich kreativ, gestalterisch, sportlich betätigt haben, von heute auf morgen gänzlich weg.
Welche Rollen nehmen Schule und Jugendarbeit in dieser Zeit ein?
Mein Eindruck: Beide Felder agieren gerade absolut getrennt voneinander. Schule konzentriert sich, versucht mit Macht die Vermittlung des Schulstoffes aufrechtzuerhalten, um die Lernziele der Fächer halbwegs zu erreichen. Schulverantwortliche richten ihre digitalen Angebote vor allem auf die sogenannten Kernfächer aus. Die Schule will in diesem Sinne funktionsfähig bleiben und denkt in diesem Modus nicht daran, dass es noch etwas anderes gibt und inwieweit ihr Tun z. B. zur Persönlichkeitsbildung beiträgt. Alles, was Schule sonst an Erziehungs-, Betreuungs- und erweiterter Bildungsfunktion einnimmt, geht, so wie ich das wahrnehme, eher verloren. Die außerschulischen Anbieter wiederum haben sich erst einmal auf die Kurse und den Einzelunterricht fokussiert. Die Teilnehmerbeiträge daraus sichern zumindest teilweise deren Existenz.
Welche Chancen sehen Sie?
Durch den Zwangsdigitalisierungsschub wird sich Unterricht verändern. Das wird sicherlich sehr heterogen sein, in Abhängigkeit von der einzelnen Schule und den jeweiligen Lehrkräften. Die Lernplattformen und unterschiedlichen Formen der Vermittlung, die jetzt aufgebaut werden, wird man nicht zurückdrehen. Jetzt wird erfahren, dass sich Kinder Dinge selbst erschließen können, selber machen können. Da wird es zukünftig noch mehr um selbstständiges Lernen gehen. Da bin ich guten Mutes, dass es hier keinen Rollback zu starren Strukturen geben wird. Die außerschulischen Träger probieren auch sehr viel aus. Das wird auch nicht verschwinden. Jeder Träger wird für sich selber prüfen: Was funktioniert für uns? Was können wir ergänzend oder komplementär auch zukünftig machen? Das ist insgesamt auch eine spannende Diskussion für die Kulturelle Bildung.
Es wird zukünftig noch mehr um selbstständiges Lernen gehen. Da bin ich guten Mutes, dass es hier keinen Rollback zu starren Strukturen geben wird.
Prof. Dr. Ivo Züchner
Und welche Risiken sehen Sie, vor allem für Kooperationen?
Mit Blick auf eine Zusammenarbeit bin ich eher pessimistisch. Ich habe das Gefühl, dass sich gerade durch Corona das, was sich mühsam an Zusammenwirken zugunsten der Bildungschancen unabhängig vom Elternhaus entwickelt hat, wieder zerlegt wird. Die Teilhabe an Angeboten scheint, so wie ich das beobachte, wieder schichtspezifisch verteilt. Die Frage ist also, wie Bildung wieder in einem Verbund geschehen kann. Die Kooperationen warten jetzt auf die Schulöffnung. Aber in ihren Konzepten für die nächsten Monate wird sich Schule eher darum sorgen, wie geht es weiter, wenn die nächste Corona-Welle kommt oder was könnte alles noch passieren? Ein gemeinsam gestalteter Bildungsraum wird vermutlich erst einmal bis nächstes Jahr in den Hintergrund rücken.
Welche Kooperationsansätze könnte es aktuell dennoch geben?
Kooperationsangebote müssten offengehalten werden, wenn z. B. im Kontext von Ganztagsschulen mit Kooperationspartnern schon in den vergangenen Jahren gearbeitet wurde. Mindestens in den bestehenden Gruppen, die es gegeben hat, sollten auch Angebote stattfinden können. Kooperationspartner könnten sich an „ihre“ Schule wenden. Hier könnte man sagen: Wenn ihr mit uns kooperiert, dann können wir Angebote für Kinder und Jugendliche machen, die im pädagogischen Auftrag der Schule liegen. Fragen politischer Bildung könnten bearbeitet werden. Oder: Was ist Corona? Wie wird aktuell mit Grundrechten umgegangen? All die Dinge, die gerade auch so massiv durch die Medien getrieben werden. Schule ist ja ein Ort, wo dieses im Regelfall informell oder im Unterricht oder in anderen Formen aufgegriffen wird. Das macht jetzt ja keiner.
Was kann die kulturelle Kinder- und Jugendarbeit beitragen? Welche Handlungsmöglichkeiten sehen Sie?
Die Kulturelle Bildung ermöglicht in der thematischen Auseinandersetzung im Gestalterischen, im Kreativen eine Chance. Insofern ist es wichtig zu betonen, dass Bildungsangebote – ob nun digital oder dezentral, lokal in Einrichtungen – auch dazu da sind, einen kreativen politischen Diskurs zu führen und die Kinder und Jugendlichen als Persönlichkeiten wieder ernst zu nehmen. Und dass es hier Kooperationspartner gibt, die dabei unterstützen können. Die Kulturelle Bildung muss deutlich machen: Was können wir den Schulen anbieten und welchen Mehrwert bieten wir?
Und im einem nächsten Schritt ist es sinnvoll, die Erfahrungen für das Feld der Kulturellen Bildung zu systematisieren: Was hat die kulturelle Jugendbildung jetzt anders gemacht? Welche Formen hat sie entwickelt? Gibt es Dinge, die sich durchziehen und gut funktionieren? Wie verändert sich Kulturelle Bildung auch im Kontext des Digitalen? Strategiepapiere, Angebotsmöglichkeiten, Kulturelle Bildung vor Ort in Zeiten von Corona zu betreiben, gute Praxis. Wenn die Elternteile oder Lehrkräfte nicht selbst in dem Feld engagiert sind, dann weiß das in den Schule meist niemand. Die Potenziale müssen dargestellt, das Profil geschärft werden. Das müssen die Landes- und Bundesverbände darstellen. Auch was es für Antragsmöglichkeiten gibt.
In einer Krise erodieren Strukturen und können Platz für Neues machen: Was könnte das sein?
Das einzige Fenster, was da meiner Meinung nach aktuell aufgeht, ist, dass man Kinder und Jugendliche über das ganze Digitale etwas mehr zu Akteuren macht, dass sie etwas selbstständiger Aneignung betreiben und dass es da ein Potenzial gibt, sowas auch in verschiedenen Feldern und mit verschiedenen Themen und Akteuren zu machen.
Im Forschungsprojekt „Ganztag-digital“ in Nordrhein-Westfalen, an dem Ivo Züchner beteiligt ist, konnten die regulären Befragungen während der Corona-Krise dazu genutzt werden, die Perspektive von Jugendlichen auf ihre aktuelle Situation einzuholen (Zeitraum: Mai 2020). Acht Schulen in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz haben mit insgesamt ca. 1.200 Schüler*innen teilgenommen, über den Landeselternbeirat in Hessen haben weitere 250 Schüler*innen in Hessen geantwortet. Die Fragen fokussieren v. a. auf Homeschooling, etwa die Frage danach, in welchen Fächern regelmäßig, ab und zu oder gar keine Aufgaben gemacht werden müssen und ob diese kontrolliert würden. Aber auch Fragen zu sozialer Isolation und Freizeitaktivitäten in dieser Zeit wurden gestellt.
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