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Aus der Praxis
Das war am Anfang harmloser
Seminararbeit in den Freiwilligendiensten Kultur und Bildung in Bayern, Spielmobile e. V.
22.04.20
Wo komme ich her? Wo gehöre ich hin? Das sind große Fragen für Lebensphasen, in denen Orientierung und Antworten gesucht werden. Das gilt auch für junge Menschen, die sich in den Freiwilligendiensten Kultur und Bildung engagieren. Sie widmen sich diesen Fragen in einem Seminar zum Thema Identität.
Uli Borde
Was hat Identität mit Heimat zu tun? Und gibt es ein Recht auf Heimat? Gemeinsam mit den Freiwilligen erforschen die Pädagog*innen von Spielmobile e. V., der die Freiwilligendienste Kultur und Bildung in Bayern verantwortet, wie Heimat und Identität miteinander verknüpft und welche politischen Dimensionen damit verbunden sind.
Zugehörigkeit und Identität … und Heimat?
Identität – das heißt unter anderem, sich zu Gruppen zugehörig zu fühlen und mit allen Aspekten der eigenen Persönlichkeit anerkannt zu werden. Zugehörigkeit und Anerkennung wiederum sind zwei Aspekte, mit denen ‚Heimat‘ unmittelbar verbunden ist.
Die Übungen und Methoden, mit denen sich die Freiwilligen im Seminar dem Thema Identität nähern, so reflektieren es Nicole Leicht und Felix Taschner aus dem Koordinator*innen-Team von Spielmobile e. V., sollen Perspektivwechsel ermöglichen. Damit können die Freiwilligen ein „Innen“ und „Außen“ einnehmen – und zugleich überwinden: „Wir haben alle sehr stark gelernt, in Differenz zu denken, in Unterschieden. In den Seminaren versuchen wir viel eher die Gemeinsamkeiten zu suchen“, erläutert Felix Taschner. Es gehe zudem darum, die Zugehörigkeit zu mehreren, verschiedenen Gruppen zu verdeutlichen: Identität ist hybride, eine Konstruktion, die aktiv gemixt wird.
Ganz ähnlich verhält es sich mit „Beheimatung“, das als Thema schon unterschwellig mitschwingt, wenn es um Identitätskontexte geht: Was hat mich geprägt? Beim Versuch und bei der Suche danach, sich zu verorten, sich zu positionieren, spielt das Thema für junge Menschen eine Rolle, ohne vielleicht benannt werden zu können.
Traditionen – das sind Erfindungen. Heimat letztlich auch.
Nicole Leicht, Spielmobile e. V.
Heimat – persönlich und politisch!
„Uns ist bewusst geworden, dass Heimat vermehrt ein politisch und gesellschaftlich umkämpfter Begriff ist, verstärkt in diversen Diskursen auftaucht und mit unterschiedlichen Positionen besetzt wird. Da ist bei uns im Team der Wunsch aufgekommen, dass wir das Thema aufnehmen, um diesen Begriff nicht bestimmten Gruppen zu überlassen, sondern ihn weiter zu öffnen, weiter zu denken, ihn selbst zu bespielen und gemeinsam mit den Freiwilligen auch kritisch zu reflektieren“, so erklärt Nicole Leicht die Entscheidung, Identitätsseminare mit diesem Schwerpunkt auszurichten.
Dass sich der Gebrauch des Begriffs in den letzten Jahren dynamisch verändert hat, sei auch in den Diskussionen während der Seminare deutlich geworden: Vor fünf Jahren war er noch anders und nicht so stark politisiert. Freiwillige verbanden damals vor allem den Ort und das Umfeld, in dem sie aufgewachsen sind mit Heimat, im Team kamen spontan eher Assoziationen zum Heimatfilm der 1950er Jahre oder auch bestimmte Konjunkturen in der Werbung. „Was uns in diesen ersten Seminaren sehr stark begegnet ist und uns auch zunächst stark irritiert hat, ist, dass Heimat sehr mit ‚Heimeligkeit‘ verknüpft war. Die Freiwilligen verbanden damit Geborgenheit, Sicherheit, Struktur und Herkunft. Das Thema war auch sehr stark räumlich verortet“, erläutert Felix Taschner. Letzteres sei auch wenig überraschend in einer Lebenssituation, für die viele Freiwillige umziehen und in der sie sich von dem Ort entfernen, wo sie aufgewachsen sind oder lange Zeit verbracht haben.
Was uns in den ersten Seminaren irritiert hat, ist, dass Heimat sehr mit „Heimeligkeit“ verknüpft war.
Felix Taschner, Spielmobile e. V.
2018 gab es erstmals kritische Rückmeldungen, Vorbehalte und Befürchtungen der Freiwilligen, verbunden mit der Frage, wie der Heimat-Begriff vom Träger definiert wird. Diese Befürchtungen zu nehmen und deutlich zu machen, dass der Heimatbegriff individuell zu setzen ist und auch gemeinsam in seiner politischen Dimension diskutiert werden soll – das ist die knifflige Aufgabe. Ziel ist, kritisch zu vermitteln, zu diskutieren und zu reflektieren, wie und von wem eigentlich festlegt wird, wer sich wo beheimatet fühlt bzw. fühlen darf. Wer besetzt den Begriff? Wer geht mit welchen Mitteln vor? Welche Ziele werden mit Heimatkonstruktionen verfolgt? Wem wird keine Teilhabe am Begriff und Konzept ‚Heimat‘ ermöglicht?
Diese fragende Haltung ist Grundsatz in der Seminararbeit im FSJ Kultur: Freiwillige anregen, Entwicklungen in unserer Gesellschaft hinterfragen und sich positionieren. Beim Thema Heimat geht es speziell darum, die Polarisierung zu entschärfen, um so einen eigenen und offenen Begriff zu finden, welcher den vielschichtigen Dimensionen gerecht wird. Und der dazu anregt, mit wachen Augen durch den Alltag zu gehen. Ein homogenes, oder besser: homogenisierendes und damit auch grenzziehendes, ausschließendes Heimatbild wird abgelehnt.
Mitbestimmen, mitmachen, mitnehmen
Bereits im Vorfeld des Seminars werden die Freiwilligen eingeladen, ihre Ideen und Fragen zum Seminarthema einzubringen und sie mit den anderen zu teilen. Vieles davon wird im Seminar genutzt, in dem Freiwillige ganze Programmteile selbst gestalten oder letztlich über die Themen und Methoden entscheiden. Das Tempo im Seminar können die Freiwilligen in Teilen selbst bestimmen. Genauso das Rahmenprogramm und besonders, in welche Aspekte von Identität und Heimat sie sich vertiefen wollen.
Beteiligung bezieht sich aber nicht nur auf das Mitbestimmen, sondern vor allem auf das Positionieren. Den Träger-Koordinator*innen geht es darum, die Jugendlichen zu befähigen eigene Positionen jenseits vorgefertigter Meinungen zu entwickeln.
Erforschen, diskutieren, ausdrücken
In den Themeninseln, die verstreut über alle Räume des Seminarhauses stattfinden, laden Diskussionen und Vorträge, Film- und Slideshows, Bastel- und Schreibwerkstätten dazu ein, sich inhaltlich mit Identität und Heimat auseinanderzusetzen. „Einige wollen etwas mit den Händen machen, manche in Austausch treten und andere wollen einfach mal zuhören“, so Nicole Leicht. In dieser methodischen Bandbreite kann jede*r finden, was zu ihm*ihr passt. „Heimaten bauen aus Legosteinen“ ist eine Möglichkeit, um beim aktiven Bauen spielerisch ins Gespräch zu kommen. Eine Leseecke ermutigt dazu, in der Literatur und in Sachbüchern zu stöbern. Unterschiedliche Persönlichkeiten werden als ‚Living Books‘ eingeladen. Als Teile einer lebendigen Bibliothek teilen sie ihre individuellen Erfahrungen mit den Freiwilligen. Ein sehr differenziertes Bild entsteht davon wie Heimat oder Beheimatung von Menschen begriffen und geschaffen wird – ob z. B. mittels Subkulturen, Heimatliedern, räumlicher Verankerung oder patriotischen Haltungen.
Drei Tage können die Freiwilligen anschließend nochmals ganz andere Perspektiven entwickeln, können Assoziationen und Widerständen Ausdruck verleihen. Der Spaß an künstlerischer Arbeit, der freie Prozess und die Energie in der Gruppe stehen hier im Mittelpunkt. In verschiedenen Workshops wird kreativ zum Thema Identität und Heimat gearbeitet: Heimatsound, Fotoexperimente, Performance, Architektur... Eine Werkschau zeigt die Ergebnisse. Ein Typografieworkshop gestaltet grafische oder textliche Inszenierungen rund um das Thema, die entwickelten Postkarten liegen zum Mitnehmen aus. Ein Theaterworkshop berührt mit einem als Kanon vorgetragenen Sprechgesang zu Heimat und Flucht: „Mein Vaterland ist tot. Sie haben es begraben. Im Feuer. Ich lebe. In meinem Mutterland. Wort!“. Kurzfilme schlagen sowohl nachdenkliche und traurige als auch lustige und harmonische Töne an. Und „Wie schmeckt Heimat?“ – dieser Workshop bereitet das Catering zu.
Bayern war das erste Bundesland mit einem Heimatministerium, Heimatbilder sind hier für die Tourismusindustrie und Landwirtschaft besonders relevant. Zugleich gibt es auch Menschen in Bayern, die besonders mit dem Wechselspiel aus sogenannter Tradition und Moderne spielen: Sie tragen gerne Trachten, positionieren sich linksliberal, Traditionen werden aufgebrochen und von denjenigen, die wollen, adaptiert und angeeignet. Nicole Leicht betont: „Traditionen – das sind Erfindungen. Heimat letztlich auch.“
Der Beitrag ist erstveröffentlicht in: Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e. V. (2019): Heimat – der rechte Begriff? kubi – Magazin für Kulturelle Bildung No. 16-2019. Berlin. S. 30 – 33.
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Träger für die Freiwilligendienste Kultur und Bildung in Bayern ist BKJ-Mitglied:
Für den Verband steht das Spiel als eigenständiges Phänomen im Mittelpunkt. Bei der spielerischen Auseinandersetzung mit sozialen und kulturellen Inhalten wird ein wichtiger Beitrag zur außerschulischen Kulturellen Bildung geleistet. Spielmobile sind da, wo Kinder im Stadtteil spielen.
Spielmobile ist ein bundesweiter Zusammenschluss von Fachleuten, Trägern der Spielmobilarbeit und Fachorganisationen. Der Verein hat bundesweit über hundert Spielmobilprojekte in unterschiedlichen Trägerschaften als direkte Mitglieder. Darüber hinaus gehören zur Verbandsstruktur mehrere hundert weitere Spielmobile in freier Trägerschaft.
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