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Position
Zukunft gestalten?!
Kommentar zu Chancen der Kulturellen Bildung in einem postglobalen, postdigitalen und posthumanen Zeitalter
12.11.20
Wie erschaffen wir öffentliche, demokratische digitale und nachhaltige Räume? Und wie entsteht ein kultureller Diskurs über digitale Technologien, Nachhaltigkeit und Zukunftsgestaltung? Kulturelle Bildung hat Potenziale, um gesellschaftliche Transformation mit Kindern und Jugendlichen zu gestalten.

Susanne Keuchel ist Direktorin der Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW, Vorsitzende der BKJ und Präsidentin des Deutschen Kulturrats. Ihre Forschungsschwerpunkte sind u. a. Empirische Kulturforschung und neue Technologien im Kulturbereich.
Foto: Uwe Schinkel
Pädagogische Praxis verändert sich stetig und wird vom Zeitgeist beeinflusst. Dies gilt für Bildung allgemein, wie auch für Kulturelle Bildung. Sie verweist zugleich mit dem Medium der Künste auf ihr Potenzial, Perspektivwechsel auf bestehende gesellschaftliche Praxis zu ermöglichen. Auch betont Kulturelle Bildung ihren emanzipatorischen Anspruch, kulturelle Machtverhältnisse aufzuzeigen. Dabei sind die heute vorherrschenden globalen Machtverhältnisse sehr viel komplexer geworden, als es vergleichsweise das Konzept der kulturellen Eliten 1979 von Pierre Bourdieu darstellt.
Daher stellt sich heute die Frage: Welche gesellschaftlichen Fragen und Machtverhältnisse sind im Sinne alternativer Zukunftsstrategien kritisch zu reflektieren? Und wie kann Kulturelle Bildung in Zeiten gesellschaftlicher Transformation dazu beitragen, dass junge Menschen diese Transformation aktiv gestalten?
Mit der Erkenntnis erweiterter analog-digitaler Lebensräume steht Kulturelle Bildung vor der Herausforderung, künftig nicht nur Verantwortung für die analoge, sondern auch für die analog-digitale kulturelle Teilhabe zu übernehmen.
Prof.in Dr.in Susanne Keuchel
Postglobale Fragen: Von der Ökonomisierung zu Prinzipien der Nachhaltigkeit
Globalisierung basiert auf ökonomischen Prinzipien: der Bildung und Verflechtung weltweiter Märkte. Ökonomisierung, die Übertragung wirtschaftlicher Steuerungsprinzipien auf nichtwirtschaftliche Bereiche, hat seit den 1990er Jahren einen zunehmenden Einfluss auf alle gesellschaftlichen Bereiche, auch auf die Kulturelle Bildung.
Weitere Prinzipien der Globalisierung sind Technokratie und Liberalisierung. Technokratie stellt, mit Verweis auf die Komplexität der Moderne, politisch normativ begründete und demokratisch mehrheitlich legitimierte Entscheidungen in Frage und fordert stattdessen fachlich begründete Entscheidungen durch Expert*innen. Auch in der Kulturellen Bildung kann ein Wechsel weg von normativen Leitkriterien hin zu rein fachlich begründeten Qualitätsdebatten und Kompetenzmodellen beobachtet werden. Dabei steht v. a. die wirtschaftliche Verwertbarkeit der Kulturellen Bildung im Fokus, insbesondere die Transfereffekte wie Intelligenz, soziales Verhalten, Kreativität etc., die mittels empirischer Wirkungsstudien überprüft werden.
Liberalisierung fördert die Freiheit einer individuellen Lebensgestaltung und unterstützt so indirekt auch Wettbewerbsprinzipien. Individuen werden in einer liberalen Gesellschaft ermutigt, wie dies der Volkswirt Rainer Bartel (2007) ausführt, eigenen „Präferenzen zu folgen und […] persönlichen Nutzen zu maximieren“. Nach Ulrich Becks Modell der Risikogesellschaft (1986) kann so der*die Einzelne und nicht die Gesellschaft für individuelles Scheitern verantwortlich gemacht werden. Liberalisierungsprozesse prägen auch ein zentrales Leitprinzip der Kulturellen Bildung: die Subjektstärkung. Dieser subjektstärkende Ansatz der Kulturellen Bildung ist mitverantwortlich für eine Konjunktur der Kulturellen Bildung innerhalb der öffentlichen Förderpraxis in Form von Programmen für soziale Brennpunkte und sogenannte Bildungsbenachteiligte. Das internationale Musikbildungsprogramm „El Sistema“ oder „Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung“ wären hier beispielsweise zu nennen.
Globalisierungsprozesse werden zunehmend auch kritisch reflektiert, hier insbesondere die gesellschaftliche Spaltung in Globalisierungsgewinner und -verlierer. Globalisierungskritische NGOs setzen sich daher mit der Gestaltung einer neuen sozialen Gesellschaftsordnung als Alternative zu einer Wettbewerbsgesellschaft auseinander. Eine Forderung nach einer „postglobalen Gesellschaft“ des Soziologen Jenő Bangó (1998) ist, „dem Sozialen gegenüber dem Politischen und Ökonomischen den Vorrang“ zu gewähren. Ein gemeinwohlorientiertes Steuerungsprinzip ist Nachhaltigkeit. Mit der UN-Nachhaltigkeitsagenda 2030 haben sich Staaten weltweit, den 17 ethisch-moralischen Zielen im Kontext der Generationen- und globalen Gerechtigkeit verpflichtet.
Postglobale Herausforderungen für die Kulturelle Bildung
Wie könnte Kulturelle Bildung eine postglobale Zukunftsgestaltung unterstützen? Kulturelle Bildung könnte diesen Wandel durch Perspektivwechsel fördern und somit bestehende Denk- und Handlungsmuster kritisch reflektieren. Das bedingt aber auch, die eigene Argumentationslogik im Kontext von Ökonomisierungsprinzipien kritisch zu hinterfragen.
Kann sich Kulturelle Bildung unter gemeinwohlorientierten Gesichtspunkten überhaupt noch als Dienstleistung organisieren, z. B. in Form von Angebotsformaten für einzelne Kinder und Jugendliche, unter finanzieller Mitbeteiligung der Eltern, wie es aktuell, aufgrund der bestehenden Förderlogik, gängige Praxis ist? Wie könnten stattdessen kulturelle Infrastrukturen für alle Bürger*innen einer Stadt zugänglich gestaltet werden, beispielsweise das Erlernen eines Musikinstruments für Alt und Jung? Ist es aus dieser Perspektive heraus nicht notwendig, auf die Verpflichtung des Erwerbs von Eigenmitteln zu verzichten, um den gesamten öffentlichen Raum bespielen zu können?
Auch die Projektförderung innerhalb der Kulturellen Bildung, die zunehmend die Infrastrukturförderung durch Förderprogramme unter Wettbewerbskriterien ersetzt, sollte unter nachhaltigen Aspekten kritisch reflektiert werden. Warum kann projektspezifische Innovationsförderung, beispielsweise zu Migration, Digitalität etc. nicht direkt auf nachhaltige Infrastrukturförderstrategien übertragen werden? So könnte Innovation selbstverständlicher Maßstab für die Förderung bestehender kultureller Infrastrukturen sein: Durch Flexibilität in den eigenen Strukturen dem stetigen gesellschaftlichen Wandel aus einer finanziell gesicherten Strukturperspektive heraus begegnen.
Auch Fragen der globalen Gerechtigkeit der Nachhaltigkeitsagenda 2030 kann Kulturelle Bildung gezielt aufgreifen. Denn hier stellen sich durchaus emanzipatorische Fragen zu globalen kulturellen Machtverhältnissen, so beispielsweise die starke weltweite Dominanz westlicher Kulturströmungen und ein entsprechend kommerzieller Mainstream durch weltweit agierende US-Medienkonzerne.
Von der Digitalität über Postdigitalität zu posthumanen Fragen
Der permanente digitale Zugang über Smartphones hat Auswirkungen auf junge Generationen, die im Gegensatz zu älteren „Digital Immigrants“ nicht mehr zwischen virtuellen und reellen Welten unterscheiden (vgl. Prensky). Nicholas Negroponte, Professor am MIT in Boston, prägte hier den Begriff der „Postdigitalität“ (1998). Digitalität, so seine These, ist künftig „ein wichtiger aber unsichtbarer Teil unseres Alltagslebens” wie fahrerlose Autos, im Körper implementierte Chips zum bargeldlosen Bezahlen oder Augmented Reality Gaming.
Durch die Weiterentwicklung digitaler Techniken wie KI oder Robotik verändert sich jedoch nicht nur die menschliche Wahrnehmung auf das Digitale, sondern auch die Wahrnehmung der Menschen auf das Menschsein. In einem posthumanen Zeitalter sind KI und Robotik zunehmend in der Lage, Erwerbs- und andere humane Leistungen zu übernehmen. Dies bedingt, das Konzept der Menschheit, beispielsweise den zentralen Lebenssinn der Erwerbstätigkeit, neu zu überdenken.
Dabei stellt sich auch die Frage, ob digitale Transparenz und Effizienz zu einem veränderten menschlichen Verhalten führt – Stichwort: Selbstoptimierung. Beginnt ein Wettkampf mit digitaler Technik?
Postdigitale und posthumane Herausforderungen für die Kulturelle Bildung
Mit der Erkenntnis erweiterter analog-digitaler Lebensräume steht Kulturelle Bildung vor der Herausforderung, künftig nicht nur Verantwortung für die analoge, sondern auch für die analog-digitale kulturelle Teilhabe zu übernehmen. Deshalb müssen kulturelle Bildungsangebote mit neuen Formaten auf digitale Räume erweitert werden und damit muss auch eine analog-digitale Organisationsentwicklung stattfinden.
Dies beinhaltet auch eine Auseinandersetzung mit Fragen der digitalen Zugänglichkeit von Angeboten, wie deren Auffindbarkeit, die zurzeit von kommerziellen Suchmaschinen in Form nicht-transparenter Algorithmen gesteuert wird: Wie können die aktuell stark kommerzialisierten digitalen Räume im Sinne kultureller Teilhabe als öffentliche, also demokratische, Räume zurückgewonnen werden?
Hierzu bedarf es − neben dem technischen, ökonomischen und ökologischen Diskurs zur Weiterentwicklung digitaler Technologien − auch eines kulturellen, ästhetischen Diskurses für die gestalterische Dimension digitaler Räume und Technik. Insbesondere auch das künstlerische ästhetische Spielen mit analog-digitalen Schnittstellen sei hier benannt. Wir sollten uns fragen: Welche humanen Aufgaben und kulturellen Techniken, wie das Lesen, das Schreiben oder das Erlernen von Fremdsprachen, soll digitale Technik künftig übernehmen? Und welche nicht? Denn: Digitaler Wandel ist human gestaltbar. Ist er damit letztlich nicht auch eine kulturelle Bildungsaufgabe?
Digitaler Wandel ist human gestaltbar. Ist er damit letztlich nicht auch eine kulturelle Bildungsaufgabe?
Prof.in Dr.in Susanne Keuchel
Zukunft ist gestaltbar: Eine kulturelle Bildungsaufgabe?!
Fachdisziplinen beziehen sich bei Zukunftsfragen oft auf vergangene Erfahrungen: Die Umweltbildung beispielsweise, die sich v. a. auf retroperspektivisch ausgerichtete Analysen stützt, leitet aus negativen Umweltentwicklungen notwendige Verhaltensänderungen ab, wie das sparsamere Haushalten mit Wasser, Energie etc. Innerhalb der Künste gibt es keine „richtigen“ oder „falschen“ Lösungen. Im Fokus steht der Gestaltungsprozess.
Kulturelle Bildung mit dem Medium der Künste lädt entsprechend zu Perspektivwechseln und gestalterischem Handeln ein: Wie wollen wir Zukunft gestalten? Und was muss getan werden, um diese Vision umzusetzen? Diese experimentelle Ergebnisoffenheit der Kulturellen Bildung kann zugleich notwendiges Korrektiv für eindimensionale Lösungsansätze einer technokratisierten Gesellschaft sein. Denn die Freiheit der Wissenschaft und Künste ist ein demokratisches Gut, sie dürfen nicht für politische Entscheidungen instrumentalisiert werden. Und – das hat die aktuelle Krise gelehrt: Aus wissenschaftlichen Erkenntnissen, die sich zudem stetig weiterentwickeln, können unterschiedliche politische Entscheidungen abgeleitet werden.
Kulturelle Bildung kann junge Menschen durch gestalterische Prozesse und Perspektivwechsel ermutigen, Zukunft aktiv zu gestalten. Dafür muss Kulturelle Bildung den Mut haben, sich immer wieder neuen gesellschaftlichen Fragen zu öffnen, hier auch normative Positionen zu vertreten und eigene fachliche Perspektiven immer wieder kritisch auszuleuchten.
Literatur
Bangó, Jenő (1998): Auf dem Weg zur postglobalen Gesellschaft. Soziologische Schriften 67. Berlin: Duncker & Humblot.
Bartel, Rainer (2007): Liberalisierung und Globalisierung. Grundlagen und Kritik. In:
Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Bourdieu, Pierre (1982) [1979]: Der feine Unterschied: Kritik der gesellschaftlichen
Urteilskraft. Frankfurt am Main: Suhrkamp Wissenschaft. [Original von 1979: La Distinction.]
Fellmann, Ilan/Klug, Friedrich: Schwarzbuch Neoliberalismus und Globalisierung. Bd. 115. Schriftenreihe Kommunale Forschung in Österreich. hrsg. vom Medienservice Linz/Österreich.
Negroponte, Nicholas (1998): Beyond Digital. In: Wired. Ausgabe 6/12. https://www.wired.com/1998/12/negroponte-55/ [Zugriff: 10.07.2020].
Prensky, Marc (2001): Digital Natives, Digital Immigrants Part 1. In: On The Horizon, Vol. 9 No. 5, Oxford: University Press. S. 1−6.
Der Beitrag ist erstveröffentlicht in: Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e. V. (2020): Zukunft – jetzt utopisch gerecht. kubi – Magazin für Kulturelle Bildung No. 19-2020. Berlin. S. 31 – 33.

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Susanne Keuchel ist BKJ-Vorsitzende und Direktorin von BKJ-Mitglied:

Die Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW ist das zentrale Institut für kulturelle Kinder- und Jugendbildung der Bundesrepublik Deutschland und des Landes Nordrhein-Westfalen. Ihr Kernauftrag ist die kulturpädagogische Fort- und Weiterbildung von Fachkräften der Jugend-, Sozial-, Bildungs- und Kulturarbeit. Diesen Auftrag setzt die Akademie der Kulturellen Bildung durch ein breitgefächertes Angebot in Musik, Rhythmik, Tanz, Theater, Spiel, Literatur und Sprache, Bildende Kunst, Medien und Kommunikation, Sozialpsychologie und Beratung sowie Allgemeiner Kulturpädagogik um. Darüber hinaus verwirklicht die Akademie der Kulturellen Bildung ihren Auftrag durch die Übernahme zahlreicher Aufgaben, die über das Kerngeschäft der Fort- und Weiterbildung hinausgehen. Sie ist Sitz oder Rechtsträger verschiedener Einrichtungen und Verbände der kulturellen Kinder- und Jugendbildung und ist Träger der Arbeitsstelle Kulturelle Bildung NRW.
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