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Fachbeitrag
Zivilgesellschaftliche Jugendkulturarbeit
Ein Schlüssel für emanzipatorische Bildung und demokratische Beteiligung
07.02.20
Wie Jugendkulturarbeit demokratische Haltungen fördern und zur Prävention von gruppenbezogenem Hass beitragen kann, beschreiben Niklas Vögeding und Oliver Kossack von cultures interactive e. V.
von Niklas Vögeding und Oliver Kossack
Niklas Vögeding ist Mitarbeiter bei cultures interactive e. V. Hier koordiniert und konzipiert er pädagogische Formate der Rechtsextremismusprävention.
Oliver Kossack arbeitet bei cultures interactive e.V. als Projektkoordinator in verschiedenen bundesweiten und europäischen Projekten zur Prävention von Rechtsextremismus und Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit.
Zivilgesellschaftliche Jugendkulturarbeit in Zeiten gesellschaftlicher Polarisierung
„Die deutsche Gesellschaft ist gespalten“, „Rechtsruck“, „Die gesellschaftliche und politische Polarisierung schreitet voran“ – uns allen sind solche Phrasen bekannt. Ob in Polit-Talkshows oder populärwissenschaftlichen Büchern, es scheint weithin angenommen zu werden, dass der weltweite Aufstieg des Rechtspopulismus auch vor der deutschen Gesellschaft nicht Halt gemacht hat. Von der AfD bis zur „Identitären Bewegung“, vom Heimatverein bis zur neonazistischen Kaderschmiede: Rechtspopulistische und -extreme Deutungsmuster, die menschenfeindliche und antidemokratische Haltungen vor allem auf emotionaler Ebene ansprechen und sich so rationalen Diskursen entziehen, haben im bundesrepublikanischen politischen Diskurs an Boden gewonnen. Hierbei zeigen die jüngsten Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg zweierlei bemerkenswerte Phänomene: Sind es einerseits häufig auch junge Menschen, die rechtspopulistischen Programmen ihre Stimme geben, so verläuft anderseits eine deutliche Spaltungslinie zwischen ländlichen und urbanen Regionen.
Daraus ergeben sich neue Herausforderungen für all diejenigen, die wie etwa die Jugend(sozial)arbeit oder die politische Bildung, den Auftrag haben, Menschenrechte und demokratische Haltungen zu stärken. Denn Demokratie braucht Menschen, die sich auf konstruktive Weise engagieren, die sich aktiv in demokratische und dialogbildende Aushandlungsprozesse begeben sowie die Ausgestaltung eines guten Miteinanders unterstützen. Heute mehr denn je ist Jugend- und Bildungsarbeit aufgerufen, Äußerungen von gruppenbezogenem Hass (z.B. gegenüber „Flüchtlingen“, „Muslimen“, „Schwulen“, „Behinderten“, „Frauen“) sowie grundsätzliche Demokratieablehnung pädagogisch und präventiv zu begegnen – egal ob sie aus eindeutig rechtsextremen Kreisen oder der „Mitte der Gesellschaft“ geäußert werden. Gerade in spannungsreichen Umfeldern, in denen es vielleicht keine Mehrheit mehr gibt, die aktiv für demokratische und menschenrechtliche Haltungen einsteht oder wo demokratisch engagierte Menschen gar Bedrohungen ausgesetzt sind, ist es besonders wichtig im Sinne eines nachhaltigen „Demokratie-Lernens“ zu wirken.
Hierfür bietet die zivilgesellschaftliche Jugendkulturarbeit ein geeignetes Instrumentarium zur Förderung demokratischer Haltungen. Den Fragen, was diese spezifische Form von politisch-kultureller Bildung meint, wie sie in der Praxis umgesetzt werden kann und aus welchen Gründen sie ein wirksames Werkzeug für eine produktive Präventionsarbeit im Zeichen der genannten gesellschaftlichen Herausforderungen von politischer Polarisierung und zunehmender Emotionalisierung und „Entrationalisierung“ politischer Diskurse von rechts darstellt, ist Gegenstand des vorliegenden Beitrags.
Jugendliche Lebenswelten zwischen Politik und Kultur
Wer also mit Jugendlichen ernsthaft und wirksam zu demokratischen Haltungen arbeiten will, muss sie durch adäquate (Beziehungs-)Angebote in ihrer Lebenswelt erreichen. Jugendkulturen, wie zum Beispiel Hip-Hop oder YouTube, eignen sich als Türöffner, um Heranwachsenden aus verschiedenen Milieus durch lebensweltlich orientierte politische Bildung Denkanstöße zu geben, Engagement zu fördern und Haltungen zu er- und bearbeiten. Im Rahmen von jugendkulturellen Aktivitäten können informelle Lernräume geschaffen werden, die ein emanzipatorisches und kritisches Bewusstsein sowie die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Themen fördern. Dafür sind Jugendkulturen prädestiniert, denn die Thematisierung sozialer und gesellschaftlicher Verhältnisse spielt in allen Jugendkulturen eine zentrale Rolle – sei es in Musik oder anderen jugendkulturellen Ausdrucksformen. Jugendkulturelle Praxis beruht zudem auf dem Selbstverständnis des „DIY! – Do-it-yourself!“, was auch impliziert, sich für die eigenen Interessen zu engagieren. Die Schlüsselerfahrung, selbst kulturell und politisch mitwirken zu können, befördert dann auch solidarisches Handeln und zivilgesellschaftliche Teilhabe sowie die Übernahme von Verantwortung.
Jugendkulturarbeit im Sinne von cultures interactive e.V. ist auch eine Übersetzungsarbeit. Sie vermittelt den Jugendlichen, wie ihre eigenen, persönlichen Interessen mit ihrem weiteren sozialen Umfeld verknüpft sind. Sie schafft eine Verbindung zwischen den jugendlichen Lebenswelten und „der Politik“, die für viele Heranwachsende zunächst weitgehend abstrakt ist. Dabei stärkt Jugendkulturarbeit die Jugendlichen in ihrer Fähigkeit, aus ihren kreativen Interessen konkrete Ideen für ihr Umfeld zu entwickeln und umzusetzen. Wenn dann aus Ideen Wirklichkeit wird, erfahren sie Selbstwirksamkeit und Selbstwert. Vor allem aber machen Jugendkulturangebote menschenrechtsorientierte und demokratische Werte wie Gerechtigkeit, Vielfalt, Solidarität und Mitbestimmung erlebbar, wodurch junge Menschen gegen Ideologien der Ungleichwertigkeit resistent werden können. So wird Jugendkulturarbeit zu einer Basis für die freie Entfaltung von Persönlichkeit und die Stärkung von Gemeinwesen und Zivilgesellschaftlichkeit.
Potentiale einer menschenrechtsorientierten Jugendkulturarbeit
In Jugendkulturen gestalten Jugendliche ihren eigenen Erlebnisraum – und bilden ihre Identität in der Phase zwischen Kind- und Erwachsenensein. Dabei sind Jugendkulturen stets auch ein Instrument zur Abgrenzung von der Welt der Erwachsenen. Denn die Mitglieder einer Jugendszene identifizieren sich besonders intensiv, sie „leben ihre Jugendkultur“ und prägen sie. Somit kann über Jugendszenen in verschiedensten Sozialräumen – Stadt, Land, sozial prekär oder gesichert – kulturell ausgelebt und lokal weiterentwickelt werden, was im weiteren Kontext der Jugendkulturen ästhetisch und ideell vorgedacht wird. Dabei eignen sich die Jugendlichen oft großes Wissen und vielfältige praktische und vor allem auch soziale Fähigkeiten an.
Auf diese Weise sorgsam umgesetzt, können jugendkulturell basierte Ansätze der politischen Bildung einen sensiblen Verhandlungsraum für gesellschaftliche Themen öffnen, die für Jugendliche ansprechend sind und sie direkt betreffen – gerade bei denjenigen jungen Leuten, zu denen der Kontakt beinahe gänzlich verloren gegangen zu sein scheint. Dabei ist jugendnahe politische Bildung, verbunden mit einem sozialpädagogischen Schutzauftrag, dort besonders relevant, wo eine bestimmte Jugendszene eher undemokratisch und nicht inklusiv verfährt – und sich eventuell auch sexistisch oder aggressiv gegen Minderheiten und Außenseiter richtet. Hier kann die pädagogische Unterstützung auf der Haltungsebene viel bewirken, ohne direkt in die kreative Freiheit eingreifen zu müssen.
a) Reflexion und Fairness durch Jugendkulturen und politische Bildung
Jugendkulturarbeit kann Heranwachsende aus verschiedenen Milieus erreichen, um gesellschaftspolitische Konfliktthemen wie Rassismus, soziale Gerechtigkeit und Geschlechterrollen in jugendgerechter Weise anzusprechen und zu reflektieren. So hält sich beispielsweise in Hiphop-Kreisen hartnäckig das Vorurteil, Frauen* könnten nicht rappen. Dass es aber offensichtlich jede Menge talentierte Rapperinnen* gibt, vermittelt sich von selbst, wenn ein Workshop von einer Jugendkulturtrainerin* geleitet wird, die selber rappt und die teilnehmenden Mädchen* motivieren kann.
Die Vermittlung von demokratischen Kompetenzen gelingt jedoch nicht über einen bemüht pädagogischen Bildungsansatz, der Jugendkulturen nur für den Wissenstransfer instrumentalisiert. Vielmehr sind authentische Role Models erforderlich, seien es Szene-Akteur*innen oder auch Pädagog*innen mit entsprechenden Erfahrungen, die jugendkulturelle Praxis glaubwürdig als persönlichen Erlebnisraum gestalten können. Dieses Vorgehen ist erfahrungsgemäß auch bei denjenigen Jugendlichen wirksam, die dazu neigen, andere Gruppen heftig abzulehnen. Denn der Austausch im Workshop, der auch ein moderiertes Gespräch über die eigene Lebenssituation umfasst, ermöglicht das Hinterfragen von angeblichen Wahrheiten und die Herstellung von Perspektivwechsel und Empathie für „andere“ Gruppen. Dabei wird eine Haltung gepflegt, die, wo nötig, auch Grenzen setzen kann: transparent und nachvollziehbar – und jedenfalls in genauer Rücksprache mit den Jugendlichen selbst.
Jugendkulturelle Szenen entwickeln sich oftmals entlang politischer Konfliktlinien. Bisweilen müssen beispielsweise Auseinandersetzungen mit etablierten kommunalen Akteur*innen ausgefochten werden, bevor eine Halfpipe zum Skateboard-Fahren im öffentlichen Raum zur Verfügung steht. Und ein städtischer Jugendclub kann erst dann zu einem Zentrum gelebter Demokratie werden, wenn sich dort eine offene und vielfältige Jugend- und/oder Musikszene etabliert – und die Vereinnahmung durch autoritäre Cliquen aufgelöst wird. Jugendkulturarbeit verortet sich dementsprechend im Rahmen einer engagierten und kreativen Demokratiepädagogik. Sie trägt zur politischen Urteils-, Kritik- und realen Handlungsfähigkeit bei. Und sie vermittelt die Erfahrung, dass lokale Verhältnisse im eigenen Interesse beeinflussbar sind, wenn man sich gemeinsam mit anderen dafür einsetzt.
b) Selbstwirksamkeit durch jugendkulturelle Praxis in Peer-Groups
Die Anerkennung durch Gleichaltrige ist für Jugendliche von großer Bedeutung. Sie nehmen ihre Umwelt maßgeblich in der Perspektive und über die direkte Interaktion mit ihren Peers wahr. Dementsprechend ist ein Ansatz, der unmittelbar bei den lebensweltlichen Wahrnehmungen der Jugendlichen ansetzt, vielversprechend und zielführend. Dabei kann die Gelegenheit, das eigene jugendkulturelle Können an andere weiterzugeben, bei Jugendlichen ein großes Maß an Solidarität herstellen – und ihnen ein positives Selbstbild geben.
Jugendkulturarbeit für Menschenrechte und Demokratie unterstützt Jugendliche dabei, ihre sozialen Fähigkeiten durch solche Selbstwirksamkeitserlebnisse zu entwickeln. Eine präventive Wirkung gegen Ideologien der Ungleichwertigkeit entfaltet sich dann, wenn Jugendliche erkennen, dass ihr Tun soziale Wirkungen erzeugt und Veränderungen hervorrufen kann. So erkennen jugendkulturell produktive Heranwachsende den persönlichen Wert und sozialen Nutzen von demokratischen und menschenrechtlichen Haltungen unmittelbar – als Basis für die freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit.
c) Demokratische Teilhabe von Heranwachsenden im Gemeinwesen
Jugendkulturen können ein grundlegender Faktor und eine entscheidende Schnittstelle für ein zivilgesellschaftlich und inklusiv ausgerichtetes Gemeinwesen sein. Dieses Gemeinwesen wird Netzwerke zwischen Heranwachsenden, ihren Familien, dem Sozialraum und der Schule umfassen, die nicht nur die Jugendlichen bei der Gestaltung ihrer eigenen Lebenswelten unterstützen. Damit eröffnet sie ihnen auch ein Verständnis von einer weitergehenden demokratischen Teilhabe. Dies gilt vor allem für marginalisierte Jugendliche, die mit jugendkulturellen Angeboten in „ihrer eigenen Sprache“ angesprochen werden können. Wenn in einer Kommune milieubedingte, räumliche und soziale Barrieren sowie Berührungsängste, Vorurteile und Diskriminierungsmuster abgebaut werden, entsteht ein Verständnis für gemeinsame Interessen – und die Möglichkeit, an einem Strang zu ziehen. Aus der unmittelbaren jugendkulturellen Sphäre kann dann auch eine inhaltliche Auseinandersetzung mit Vorstellungen von Fairness, Gesellschaft und Menschenrechten erwachsen, die weiter reicht und ins Gemeinwesen ausstrahlt. Denn Menschenrechte betreffen alle sozialen und Altersgruppen gleichermaßen, sowohl im privaten Umfeld, als auch in gesellschaftlichen Zusammenhängen.
Fazit: Ein Plädoyer für eine menschenrechtsorientierte Jugendkulturarbeit
Jugendkulturarbeit bietet ein vielfältiges Instrumentarium, um mit Jugendlichen lebensweltorientiert über politische Inhalte ins Gespräch zu kommen und sie zu zivilgesellschaftlichem Engagement zu ermutigen. Sie kann einerseits empowernd, andererseits präventiv wirksam werden, dadurch Demokratie und Menschenrechte fördern und Rechtspopulismus und -extremismus in seinen vielfältigen aktuellen Formen entgegenwirken. Gerade auch in ländlichen Regionen, in denen rechtsextreme Angebote für Jugendliche mangels Alternativen vielleicht besonders interessant erscheinen, hat die Jugendkulturarbeit das Potenzial, menschenrechtlich fundierte Beteiligungsmöglichkeiten aufzuzeigen und damit auch für Jugendliche, die sich von rechtspopulistischen oder gar –extremen Deutungsmustern angesprochen fühlen, demokratische Ausdrucksmöglichkeiten zu bieten. Außerdem zeigt die Erfahrung von cultures interactive e. V., insbesondere in Schulen und Jugendeinrichtungen im ländlichen Raum Ostdeutschlands, dass Jugendkulturarbeit eine Begegnung auf Augenhöhe zwischen Jugendlichen mit und ohne Migrations- oder Fluchterfahrung ermöglichen können. Da Jugendkulturen wie Hip-Hop, Skateboarding, Parkour oder YouTube global aufgestellt sind und nicht an nationalen Grenzen haltmachen, können sie Jugendliche unabhängig von ihrer Herkunft auf Basis ihrer jugendkulturell-lebensweltlichen Interessen zusammenzubringen, Gesprächsräume eröffnen, Barrieren abbauen und gemeinsame Aushandlungs- und Gestaltungsprozesse ermöglichen.
Deshalb braucht es eine Jugendkulturarbeit für Menschenrechte und für Demokratie – heute mehr denn je.
Dieser Beitrag ist erstmals erschienen im Newsletter für Engagement und Partizipation in Deutschland (19/2019) des Bundesnetzwerks Bürgerschaftliches Engagement (BBE).
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