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Aus der Praxis

Auf Abstand und doch nah dran!

22.01.21

Verrückte Stop-Motion-Videos, Kochrezepte gegen Corona-Blues, Zirkus-Tutorials, Tanz-Challenges und noch so viel mehr: Was Kinder, Jugendliche und die kulturellen Bildungsträger 2020 digital geschaffen haben, das kann sich sehen lassen.

Text: Kathrin Köller

Als die Schulen und Freizeiteinrichtungen im Frühjahr 2020 von heute auf morgen schließen mussten, hat die Kulturelle Bildung schnell reagiert, um die zu Hause „abgestellten“ Kinder und Jugendlichen aufzufangen. Theaterleute und Zirkusmenschen bildeten sich in Windeseile zu Filmproduzent*innen weiter. Wer welche hatte, verlieh seine Endgeräte. Bedenken zu digitalen Tools wurden pragmatisch gelöst und Projekte umgestrickt, um wenigstens digital den Kontakt zu den jungen Menschen zu halten.

Ist es jetzt wahr oder noch nur ein Traum? | Oder sollen wir über uns hinauswachsen, uns was traun? | Die Hoffnung stirbt zuletzt. Eine Lösung ist komplex. | Das Leben ist ein Battle. Das Gute gewinnt den Contest.

Ronja, Rapperin im Berliner Mädchentreff Schilleria von Berlin Massive e. V.

Soziale Medien sozial nutzen

Wo im Vorfeld Kontakte bestanden und auf bestehende Strukturen und geleistete Beziehungsarbeit aufgebaut werden konnte, funktionierte das besonders gut. Der Berliner Mädchentreff Schilleria z. B. konnte die Teilnehmer*innen über soziale Medien und Videokonferenztools gut erreichen und verlegte seine Kurse kurzerhand ins Netz. Aus dem analog geplanten Workshop „Wer bin ich?“ wurde der digitale und später hybride Kurs „Wer bin ich in Krisenzeiten?“, in dem die Mädchen wahlweise das Rappen oder künstlerisches Gestalten lernten und gleichzeitig die Möglichkeit hatten, ihre Ängste und Sorgen anzusprechen. „Allerdings lässt sich nicht wie bei den normalen Kursen sagen, okay, das läuft jetzt jeden Donnerstag von 14.00 bis 18.00 Uhr, sondern ich musste schon mehr hinterher rennen,“ berichtet die Leiterin Sinaya Sanchis vom Verein Berlin Massive. Sie hält den direkten Kontakt über Whatsapp, fragt nach, erinnert, macht Mut. Die verstärkte digitale Kommunikation gibt den Mädchen Halt. Sie nutzen die niedrigschwellige  Kommunikation, um an ihren Raps zu arbeiten und sich miteinander und mit der Workshopleiterin auszutauschen. Sinaya Sanchis selbst schickt ihren Teilnehmerinnen inzwischen Rap-Videos und andere Musik als Vorbereitung auf die Handys. „Wir können dann viel direkter loslegen. Manchmal entsteht die Diskussion schon im Forum oder in der Chatgruppe. Diesen unmittelbaren Austausch, den will ich auf jeden Fall beibehalten.“

Die Leute selbst ins Machen bringen

Auch im Leipziger Heizhaus des Urban Souls e. V., einem Jugendzentrum mit Angeboten im Bereich Skaten, Graffiti, Rap und Urban Dance wurden in der Not, als das Haus zum ersten Mal seit Bestehen schließen musste, innovative Formate entwickelt, von denen einige in das reguläre Programm übernommen werden sollen. Die große Herausforderung bestand darin, Jugendlichen, die mit Motivationsverlust, Schul- und Existenzängsten kämpfen, digitale Angebote zu machen, mit denen sie kreativ werden und sich als selbstwirksam erleben. Den Anfang machte die Rapkette, ein freies Format, bei dem die Jugendlichen kleine Handyvideos aufnahmen, das Jugendzentrum die verschiedenen Videos zusammenfügte und online stellte. Wer das nicht wollte, konnte auch nur Textfragmente schicken, die dann von einem Rapper und einem Musiker inszeniert wurden. Vielleicht am nächsten dran an einem richtigen Event ist das Format Open Stage. Von dem Ukulelen-Solo auf dem heimischen Sofa bis zum animierten Deutschrockvideo können Jugendliche ihre Performances einschicken. Zwei Mitarbeiter*innennde haben sichtlich Spaß bei ihrer neuen Rolle als Quizmaster der Open Stage, wenn sie den jeweils nächsten Beitrag des anderthalbstündigen Programms auslosen. Gesendet wird alles per Livestream, in hybriden Phasen auch vor einem kleinen Publikum. Sven Bielig, Leiter des Jugendzentrums, ist froh, mit diesen spielerischen Formaten Jugendlichen auch in Krisenzeiten Angebote machen zu können, sich auszudrücken und mitzugestalten.

Und trotzdem einsam!

So kreativ und empowernd diese Videos und Performances sind, die Kinder, Jugendliche und kulturelle Bildungsträger mit viel Liebe zum Detail erstellt haben: Die digitalen Formate stoßen meist an ihre Grenzen, wenn es darum geht, die Sehnsucht nach persönlicher Nähe und Interaktion zu befriedigen. Performance ist die eine Sache. Publikum die andere. Das tollste Zirkusvideo, der beste Rap-Song, ein cool zusammen geschnittenes Theaterstück, sie verlieren ein bisschen von ihrem Glanz, wenn man sie nicht gemeinsam anschauen, den Atem anhalten und sich die Seele aus dem Leib jubeln kann. Oder auch die kleinen Momente. Die Plattform corona-allein-zu-haus.de des Münchner Instituts für Medienpädagogik veröffentlicht Beiträge von jungen Menschen, die sich kreativ mit der Krise auseinandersetzen. Hier hat der 20jährige Fotograf Marvin van Beek ein Video veröffentlicht, „Memories of a normal life“ – zusammengeschnitten aus Alltagsbildern des Jahres 2019: Jugendliche, die gemeinsam kochen, sich anrempeln, abhängen und in den Arm nehmen. Das berührt.

Kunst als Ventil

Immerhin bietet die Kulturelle Bildung auch in ihrer digitalen Form Möglichkeiten, den Frust zu verarbeiten und auf künstlerischem Weg Druck rauszulassen. Denn Frust hat sich genügend angestaut – darüber, dass all das, was am meisten Spaß macht, grad nicht sein darf, es kaum Orte zum Treffen gibt, Schule noch schwieriger geworden ist und keinen Spaß macht. „20;20 alle Straßen so leer. 20;20 keine Aussicht mehr“ rappt Ronja, die eigentlich immer gut drauf war, aber durch die Unsicherheit, ob und wann sie jetzt ihre Freund*innen treffen darf oder nicht, ein bisschen depressiv geworden ist. Ihre Rap-Lehrerin aus der Schilleria ist sich sicher, dass es auch im neuen Jahr noch viel aufzufangen gibt. „Ich habe das Gefühl, dass die Angebote, die wir machen, nochmal wichtiger geworden sind als vorher. Auch das Thema Verschwörungstheorien wird uns noch lange begleiten.“

Raus aus dem Corona-Koma

Und der Ausblick auf 2021? Sinaya Sanchis ist durch Ronjas Rap nochmals ganz deutlich geworden, Digitalität ist nicht das Hauptthema und auch kein Selbstzweck. Das wichtigste ist und bleibt, auf die Jugendlichen und ihre Themen zu hören. Und da ist 2020 einiges auf der Strecke geblieben. Von der Klimakatastrophe, über Gender- und Zukunftsfragen zur Auseinandersetzung mit Rassismus und Kolonialismus – junge Menschen interessieren sich für mehr als die Maske vor der Nase. Und so lautet Ronjas Refrain „Ist es jetzt wahr oder noch nur ein Traum? | Oder sollen wir über uns hinauswachsen, uns was traun? | Die Hoffnung stirbt zuletzt. Eine Lösung ist komplex. | Das Leben ist ein Battle. Das Gute gewinnt den Contest.“

Projekte der beiden hier vorgestellten Einrichtungen wurden gefördert im Programm „Künste öffnen Welten“ der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e. V. (BKJ) im Rahmen von „Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF): Urban Souls e. V./Heizhaus, Leipzig; Projekt „Wer bin ich und was will ich sein?“ von Berlin Massive e. V., Madonna Mädchenkult.Ur e. V./Mädchentreff Schilleria und Karl-Weise-Schule­Berlin.

Der Beitrag ist erstveröffentlicht in: Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e. V. (2020): Zukunftsgestalter*innen. Mit Kunst und Kultur für die Gesellschaft aktiv. Arbeitshilfe. Berlin/Remscheid. S. 136 – 139.

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Zitiervorschlag

BKJ: Auf Abstand und doch nah dran!
https://www.bkj.de/digital/wissensbasis/beitrag/auf-abstand-und-doch-nah-dran/
Remscheid und Berlin, .

  • Corona-Krise
  • Kultur macht stark

BKJ-Inhalt

Typo: 723
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